Review: AMERICAN SPLENDOR – Wer ist Harvey Pekar?



Fakten:
American Splendor
USA. 2013. Regie: Robert Pulcini, Shari Springer Berman. Buch: Robert Pulcini, Shari Springer Berman, Harvey Pekar (Vorlage), Joyce Brabner (Vorlage).
Mit: Paul Giamatti, Hope Davis, Judah Friedlander, James Urbaniak, Harvey Pekar, Madylin Sweeten, Earl Billings, Maggie Moore, Toby Radloff, Daniel Tay, Molly Shannon, Donal Louge, Joyce Brabner u.a. Länge: 101 Minuten. FSK: freigegeben ab 12 Jahren. Auf DVD erhältlich.


Story:
Harvey Pekar arbeitet als Sachbearbeiter in einem Krankhaus, ist bereits zum zweiten Mal geschieden und ist alles, nur kein wirklich glücklicher Mensch. Als er den Comiczeichner Robert Crump kennen lernt und er diesem vorschlägt sein ganz normales Leben in einem Comic festzuhalten, ist dies der Beginn von „American Splendor“, einer der langlebigsten und bekanntesten Non-Superhelden-Comics der Geschichte. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich Harvey Leben dadurch ändert – außer dass er Joyce kennen lernt.





Meinung:
Im allgemeinen Kanon eines mit wenig Kunstaffinität gesegneten Zirkels, ist der Comic wohl unter dem brandmarkenden Schlagwort 'Nerdtum' verankert und folgt damit dem Irrglauben, dass es einzig Außenseiter mit Zahnspange, Akne und einer von Mutti angefertigten Topfschnittfrisur sind, die zu den Konsumenten dieser Sparte gehören. Natürlich beschränkt sich ein Comic respektive eine Graphic Novel auch nicht nur auf den Figurentypus des archetypischen Superhelden, der sich durch seinen Altruismus oder seine Omnipotenz auszeichnet, um Großstädte vor dem sich anbahnenden Übel eines x-beliebigen Schurken zu bewahren. Ein Comic kann durchaus kreative Herberge für zwischenmenschliche Diskurse sein und nicht nur auf gigantomanisches Spektakel setzen, wie Julie Marohs „Le bleu est une couleur chaude“ (von Abdellatif Kechiche mit „Blau ist eine warme Farbe“ 2013 verfilmt worden) oder „A History of Violence“ von John Wagner und Vince Locke, der 2005 von David Cronenberg („Crash“) filmisch meisterhaft adaptiert wurde.


Der ganz normale Alltag kann echt anstrengend sein
Der vom Ehepaar Robert Pulcini und Shari Springer Berman inszenierte „American Splendor“ dient ebenfalls exemplarisch dafür, um den generellen Ruf des Comics in der Öffentlichkeit in etwas andere, aufrichtigere, angemessenere Bahnen zu lenken und zeigt auf, dass Antihelden eben nicht nur hinter einer Maske und im Cape überzeugen, sondern ihr griesgrämiges Antlitz gerne weiterhin direkt zur Schau stellen dürfen. Basierend auf der als Underground-Comics gestarteten „American Splendor“-Reihe von Harvey Pekar, wie der Graphic Novel „Our Cancer Years“, welchen Harvey Pekar gemeinsam mit seiner Frau Joyce Brabner entworfen hat, versuchen sich Pulcini und Berman der Person Pekar gleich auf mehreren Ebenen zu nähern. Die Frage, die sich der von Paul Giamatti verkörperte Harvey Pekar zum Ende des Films in vortrefflich selbstreflexiver Manier stellt, regiert den Film: Wer ist dieser Harvey Pekar? „American Splendor“ muss nach der Sichtung des Rezipienten erst einmal aufgrund seiner formalen Meta-Plateaus sortiert werden: Wir haben zuerst einmal den dokumentarischen Rahmen des Films, der durch den echten Harvey Pekar als Erzäh ler und Interviewpartner herhalten muss.


Der echte Harvey mischt sich gerne in den Dreh ein
Neben dieser realen Informationsquelle, ist „American Splendor“ ein Spielfilm, in dem sich Paul Giamatti („12 Years a Slave“) als Harvey Pekar durch das Szenario knurrt, gle ichzeitig immer von seinem Comic-Pendant, ähnlich wie ein knurrender Schatten, verb al befeuert wird und sich selbst dann noch einmal in einem Theaterstück begutachten darf. Klingt verworren? Ist es aber nicht, denn weder sind diese Erzählperspektiven ein em Selbstzweck untergeordnet, noch stören sie die Rhythmik der Narrative in ihrer Spr unghaftigkeit. Paul Giamattis Pekar dient als pointierte Spiegelung des Reellen, die sich in beliebigen Situationen mit dem Comic-Ich kreuzen kann, um dann einen tiefen, int rospektiven Blick in die Seele des kauzigen Harvey Pekars zu erlauben. Aber zurück zur eigentlichen Fragestellung: Wer ist dieser Harvey Pekar denn nun? Nun ja, Harvey Pekar ist ein Sachbearbeiter in Cleveland, ein chronisch verstimmter Niemand, der den gesellschaftlichen Schönheitsidealen mit seinem Glatzenansatz, dem behaarten Rücken und dem Bäuchlein gewiss nicht entspricht. Ihn treibt eine schwere Unzufriedenheit über sein eigenes Sein, dass ihn dazu animiert, einen Comic über seine persönliche Lethargie zu entwerfen.


Der schwarzseherische, trübsinnige und misanthropische Nerd findet dadurch ein Ablassventil für das eigene Ungenügen, später sogar eine Art Eigentherapie und Bewältigungsmaßnahme, um den Krebs zu überstehen. Dass „American Splendor“ vom Alltag eines Einzelnen berichtet, der dazu dienen soll, seine Leserschaft in ihrer sich tagtäglich wiederholenden Monotonie zu reflektieren, hält den Film letztlich nicht davon ab, die Antithese des obligatorischen Helden zu idealisieren, nicht umsonst weiß „American Splendor“ wunderbar zu unterhalten. Interessant ist, wie sich das Porträt des Harvey Pekar zusammensetzt, wie es in einer Welt aus Yuppies, den zwanghaft-obessiven wie autistischen Freaks und Außenseitern aus dyfunktionalen Familien, einem veritablen Duktus zu unterziehen, in dem keiner der Protagonisten einem Stereotypen auf die Schliche kommt. Berührend wird „American Splendor“ dann, wenn sich auch Harvey seiner Sterblichkeit bewusst wird und sich selbst mit der Möglichkeit konfrontiert, dass, wenn er geht, auch sein Comic-Ich, sein Schaffen, verschwinden wird. Das Leben ist ein Krieg, den man nicht gewinnen kann, es sind einzelne Gefechte, in denen es zu triumphieren gilt. Ein Hoch auf die Gewöhnlichkeit!


7,5 von 10 jüdischen Omas an der Kasse


von souli

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