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Review: WIENER DOG – Ein Dackel macht die Runde!

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Fakten:
Wiener Dog (Wiener-Dog)
US. 2016. Regie & Buch: Todd Solondz. Mit: Ellen Burstyn, Kieran Culkin, Julie Delpy, Danny DeVito, Greta Gerwig, Tracy Letts, Zosia Mamet u.a. Länge: 88 Minuten. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. Ab dem 28. Juli 2016 im Kino.


Story:
„Wiener Dog“ erzählt vier Geschichten rund um den namensgebenden Dackel. In diesen Episoden wechselt der Hund von Besitzer zu Besitzer und sorgt für die unterschiedlichsten Begebenheiten und skurrilen Situationen.


Meinung:
Was haben ein gegen Krebs kämpfender Junge, ein erfolgloser Drehbuchautor, eine verbitterte Großmutter und eine besorgte Tierliebhaberin gemeinsam? Gar nichts wäre in 99% der Fälle die richtige Antwort, bei „Wiener Dog“ würde der Kandidat damit aber keinen Blumentopf gewinnen. Denn der neueste Film von Todd Solondz („Happiness“) verbindet diese Einzelschicksale (und noch so einige mehr) durch einen Hund, genauer gesagt einen Dackel (oder Wiener-Dog im Englischen), der seinen Weg von Besitzer zu Besitzer findet und dabei stets für merkwürdige Situationen sorgt.


Musikliebhaber unter sich!
Schon zu Beginn erstrahlt „Wiener Dog“ im typischen Look des zeitgenössischen, amerikanischen Independent-Kinos. Kontrastreiche Farben finden zu ruhigen, hochauflösenden Bildern und mehr als nur einmal generiert Regisseur Solondz Bildmontagen mit aufpolierter Werbefilmeoptik. Die Bildgestaltung ist interessant, erweist sie sich doch bei genauerer Betrachtung als äußerst widersprüchlich. Denn während die Bildsprache durch ihre Nähe zu den Figuren vermeintliche Echtheit und Bodenständigkeit suggeriert, sorgen die knallige Optik und die reichlich überzeichneten Figuren für einen gegenteiligen Effekt. Es ist die typische Formel des aktuellen Indie-Films, der auch „Wiener Dog“ treu ergeben ist. Ein handwerkliches Geschick dafür muss man Todd Solondz jedoch auf jeden Fall attestieren, auch wenn diese mittlerweile recht generische Herangehensweise auf formaler Ebene wohl nicht mehr für euphorischen Jubel sorgen wird. Es ist jedoch auch kaum die technische Ebene auf der er seine Zuschauer abholen will, vielmehr ist dem amerikanischen Filmemacher an den zwischen- und vor allem innermenschlichen Befindlichkeiten seiner Figuren gelegen, die er mit einer ordentlichen Portion Eigenwilligkeit an die Oberfläche lockt. Das Lachen bleibt dabei immer wieder im Hals stecken, denn die Grenze zwischen skurrilem, zynischem Humor und niederschmetternder Sozialkritik vermengt „Wiener Dog“ gekonnt.


Wiener gefällig?
Für den Dackel selbst bleibt gegen Ende des Films dafür wenig Platz. Ist er zu Beginn noch zentral involviert, verkommt er bei zunehmender Laufzeit zu einem bloßen Indikator für die unterschiedlichsten Situationen. Dramaturgisch gerät „Wiener Dog“ dadurch immer wieder in ein eher schleppendes Tempo, brauchen die unterschiedlichen Episoden doch immer eine gewisse Zeit um zum eigentlichen Kern ihrer Geschichte vorzudringen. Inwiefern dem Film sein episodenhaftes Dasein wirklich zum Vorteil gereicht, darf angezweifelt werden, denn immer wieder entsteht der Eindruck, dass man von ebenjener Situation oder Figur gerne noch etwas mehr beziehungsweise weniger gesehen hätte. Es sind die typischen Probleme von Episodenfilme, die auch „Wiener Dog“ befallen und gegen die er sich kaum wehren kann. Gegen Ende bleibt man als Zuschauer etwas ratlos, denn die verschiedenen Einzelerkenntnisse fügen sich auch nach dem Abspann nicht zu einer Einheit zusammen.


Todd Solondz neuester Film erweist sich als eine mit feinen Pointen gespickte Mischung aus Satire und aufwühlender Gesellschaftsstudie, die sich zuweilen etwas vergeblich an Klischees abarbeitet, im Kern einer jeden Episode aber doch reichlich Interessantes ans Tageslicht lockt. In typischer Indie-Film Manier inszeniert, ist „Wiener Dog“ letztlich zu breit gefächert um für seine angeschnittenen Erkenntnisse wirklich gelobt zu werden, ein sehenswerter Film ist er jedoch allemal geworden.


6 von 10 explosiven Hunden 

Review: DER BUNKER – Bizarre Eigenheiten inmitten ganz normaler Familienprobleme

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Fakten:
Der Bunker
DE, 2015. Regie & Buch: Nikia Chryssos. Mit: Pit Bukowski, Daniel Fripan, Oona von Maydell, David Scheller. Länge: 85 Minuten. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Irgendwo im Nirgendwo suchen die Bewohner eines Bunkers einen Untermieter. Auf die Anzeige hin, welche vor allem Ungestörtheit anpreist, reist ein Student an, um sich in Ruhe einer Forschungsarbeit zu widmen. Im Inneren dieses Bunkers ist allerdings so gut wie gar nichts normal und so wird der Student früh in ein schräges Szenario hineingezogen, in dem er bald die Kontrolle verliert...




Meinung:
Unter einem ruhigen Plätzchen, an dem er sich ungestört seiner Forschungsarbeit widmen kann, hat sich der Student sicherlich etwas anderes vorgestellt als das fensterlose, einer Gefängniszelle gleichende Zimmer, in das er hineingeführt wird. Doch der ungemütliche Raum in diesem unterirdisch gelegenen Bunker ist nur der Startschuss zu einer Odyssee der bizarren Eigenheiten. "Der Bunker" ist der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind, denn hier offenbart jede noch so kleine Einstellung neue skurrile Details, beklemmende Entwicklungen oder trockenen Humor, der sich zwischen Tragödie und Komödie bewegt.


Die Jugend von heute sieht auch immer seltsamer aus
Regisseur Nikia Chryssos hat mit seinem Film eine ungestüme Mixtur geschaffen, die von der ersten Minute an ein schräges Paralleluniversum innerhalb unserer gewohnten Welt kreiert. Wundert man sich zunächst noch über den urigen Familienvater, der eine Strichliste führt, sobald der Student beim Abendessen noch einen Kloß mehr möchte, während die gesamte Inneneinrichtung dieses schaurigen Bunkers immer noch Rätsel aufgibt, erhält auch schon Sohn Klaus seinen Auftritt. Äußerlich ist der angeblich Achtjährige ein Mysterium, hinter dem sich offenbar ein Erwachsener in der Erscheinung eines Kindes verbirgt. Mit seinen auffälligen Outfits und der Prinz-Eisenherz-Frisur versprüht Klaus eine unheimliche Ausstrahlung, die durch sein kindlich-naives, unüberlegtes Verhalten nur noch verstärkt wird. Und dann ist da noch die Mutter, die einerseits kühl und distanziert wirkt, andererseits ein äußerst bizarres Geheimnis verbirgt, bei dem der Name "Heinrich", eine offene Wunde am Bein und eine dämonisch verzerrte Stimme eine große Rolle spielen.


Ausnahmsweise darf auch mal gefeiert werden
Was dieses Kammerspiel-Kuriosum so faszinierend wie verstörend macht, sind nicht die eigentlichen Absonderlichkeiten, die Chryssos am laufenden Band auffährt, sondern die gewöhnliche Selbstverständlichkeit, mit der der Regisseur diese komplett ohne extrovertierte Paukenschläge in den Handlungsverlauf integriert. "Der Bunker" ist in vielen Szenen derart schräg, dass man kaum hinschauen möchte, doch er ist nicht einfach nur skurril der Skurrilität wegen, sondern erzählt in seinem Kern oftmals von universell zugänglichen Themen. Chryssos erweist sich als wagemutiger Regisseur, der extreme Genre-Zutaten und Stil-Elemente stimmig zitiert sowie variiert, doch zwischen Gaga-Humor und Body-Horror ist sein Film vor allem eine Geschichte über den Missbrauch familiärer Autorität und Erziehungsmethoden. Als Zuschauer bleibt einem genauso wie der Figur des Studenten kaum eine andere Wahl, als all diese ungewöhnlichen Vorkommnisse maximal seltsam zu empfinden. Aufgrund der völlig weltfremden Ansprüche, die das Ehepaar an ihren Sohn stellt, der nichts weniger als Präsident werden soll, obwohl er schon damit überfordert ist, Hauptstädte richtig Ländern zuzuordnen, und der brutalen Strafen, die Klaus über sich ergehen lassen muss, streut Chryssos aber nach und nach Spuren in seinen Film, durch die so etwas wie bestürzte Empathie entsteht.


Auch wenn man es zuerst vermutlich niemals für möglich gehalten hätte, ist "Der Bunker" eine trockene Groteske, in der sich ganz tief verborgen viele emotionale Zwischentöne entdecken lassen. Hier geht es nicht nur darum, regelmäßig bizarren Horror aus der spröden Oberfläche hervor brechen zu lassen, sondern um aufrichtig menschliche Aspekte, die dem bizarren Spektakel immer wieder als Stützpfeiler dienen. Mit Unterstützung der fantastischen Schauspieler hat Nikia Chryssos ein bemerkenswertes Kleinod geschaffen, das man vor allem dann sehen sollte, wenn nicht gerade die nächste private Unterrichtsstunde auf einen wartet.


7,5 von 10 für sich selbst gesungene Geburtstagslieder



von Pat   

Review: 90 GRAD NORD - Grüner wird's nicht!

2 Kommentare:


                                                                               

Fakten:
90 Grad Nord
BRD, 2015. Regie & Buch: Detsky Graffam. Mit: Carsten Clemens, Stefan Dietrich, Jürgen Haug, Ecco Mylla, Sam Graffam. Länge: ca. 21 Minuten. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Einem gestressten Geschäftsmann geht irgendwo im Nirgendwo das Benzin aus. Auf einer kleinen Verkehrsinsel einer offenbar wenig befahrenen Landstraße trifft er auf Leidensgenossen. Als einer regelwidrig trotz roter Ampel die Straße überqueren will, zeigt die Verkehrsinsel ihr wahres Gesicht und fletscht die…Zähne?!

                                                                                         
Meinung:
„Ampel sind da um den harmonischen Austausch von Fußgängern und Kraftfahrzeugen  zu gewährleisten. Ihr Verhalten hingegen ist fahrlässig, sogar sehr fahrlässig!“


Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Und wenn, dann sicher nur im stringent regulierten und immer zuverlässigen Schilder- und Regelwald Deutschland, wo man noch beruhigt die Straße überqueren kann ohne Gefahr zu laufen, von einem rechtsüberholenden, am Steuer telefonierenden, nicht mit einem gültigen Erste-Hilfe-Kasten, akkuraten Warndreieck und mindestens vier reflektierenden Westen ausgestatteten Rowdy überfahren zu werden. Wer schon mal in der direkten Nachbarschaft im Urlaub war und beinah den Tot beim Brötchenholen gefunden hätte, weiß unsere manchmal spießiges, aber immer korrektes, sicheres Einmaleins im Straßenverkehr sicher zu schätzen (in Dänemark einen Zebrastreifen mit blauäugigem, germanischen Selbstverständnis einfach so mitnehmen, mutig bis lebensmüde). In jedem anderen Land der Welt könnte die „Creature“ von „90 Grad Nord“ nicht existieren. Entweder würde sie an Übergewicht tragisch zu Grunde gehen oder sich gar nicht entsprechend auf die Beute konzentrieren, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen können. Deutschland macht satt, aber nicht fett. Würden sich organisch ernährende Verkehrsinseln eine Bikini-Figur nötig haben, dann hier. Ist es vielleicht so…?


Bei Rot stehen, bei Grün gehen. Easy, oder?
„90 Grad Nord“ ist eine Perle des deutschen (Genre) Kurz-Films, der mit seiner kurios-brillanten Idee, dem bösen, hervorragend getimten Humor und seinem satirischen Blick wirkt wie eine Mischung aus „Monty Phyton“-Sketch und den frühen Werken von Leuten wie Sam Raimi, Peter Jackson oder Álex de la Iglesia. Für Regisseur und Autor Detsky Graffam ein Herzensprojekt. In den knapp 21 Minuten steckten jahrelange harte Arbeit, doch es hat sich gelohnt. Auf etlichen Festivals quer über die Welt lief sein Film im Wettbewerb und konnte einige Preise einheimsen, ließ sogar im Vorfeld deutlich favorisierte Konkurrenten hinter sich. Das muss nicht immer wirklich für einen qualitativ hochwertigen Film sprechen – Festivals und Preisverleihungen gibt es wie Sand am Meer und deren Sieger sprechen mitunter nur eine ganz spezielle Fanbase an -, „90 Grad Nord“ hingegen ist in jeder Sekunde ein kleines Masterpiece. Die Krux bei solchen Produktionen ist natürlich immer die Diskrepanz zwischen Anspruch und Umsetzung. Man kann noch so schöne Ideen und Illusionen haben, wenn die Möglichkeiten nicht gegeben sind, Zeit und Geld begrenzt, müssen irgendwo Abstriche gemacht werden. Bei diesem Film hat man als Zuschauer nie das Gefühl, dass irgendetwas nicht genau so sein sollte (obwohl es wahrscheinlich trotzdem der Fall sein wird), dass exakt das geistige Auge wiedergegeben wurde.


Das kommt dem Resultat natürlich nur zu Gute und wenn improvisiert wurde, dann auf professionelle, nicht ersichtliche Art und Weise. Dies ist nicht nur von seinem Inhalt ein verdammt guter Film, er präsentiert sich auch noch unverschämt großartig. Von seinen Einstellungen, dem Cast, dem Sounddesign bis hin zu den verblüffend geglückten Special Effects. Aber selbst wenn es nicht so wäre, die Prämisse ist schon so grotesk und gleichzeitig genial, selbst mit einer Husch-Husch-wird-schon-Einstellung wäre das mindestens ein nettes, sympathisches Ding geworden. In der Kombination ist etwas ganz Außergewöhnliches, Besonderes entstanden. Eine beißende – eher schon gefräßige – Satire, mit wunderbaren Einfällen und dieser Mischung aus kindlicher und doch reifer, klug reflektierter Verrücktheit, die man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Ein Pfundskerl von einem Kurzfilm mit ganz viel Herz, Leidenschaft. Insgesamt: Der bessere „Castaway – Verschollen“, ohne Wilson und penetrantem Product Placement. Geheimtipp des Monats, wenn nicht des Jahres. 

„Also wenn das vorbei ist, dann gehe ich sofort zum Ordnungsamt!“

8,5 von 10 roten Wellen

Review: THE LOBSTER - Menschen, Tiere und der Wahnsinn echter Gefühle

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Fakten:
The Lobster
FR, GB, GR, IE, NL. 2015. Regie: Yorgos Lanthimos. Buch: Yorgos Lanthimos, Efthimis Filippou. Mit: Colin Farrell, Rachel Weisz, Jessica Barden, Olivia Colman, Léa Seydoux, Ben Whishaw, John C. Reilly u.a. Länge: 118 Minuten. FSK: ungeprüft. Noch kein deutscher Veröffentlichungstermin.


Story:
In einer dystopisch angehauchten Zukunftsversion haben Singles 45 Tage um sich zu verlieben. Tun sie das nicht, werden sie als Strafe in Tiere verwandelt und im Wald ausgesetzt. In einem zu diesem Zweck eingerichteten Hotel trifft Colin Farrell auf aller Hand merkwürdiger Figuren.




Meinung:
Yorgos Lanthimos kann ohne Zweifel als ein eigensinniger Regisseur bezeichnet werden. Mit seinen früheren Werken (beispielsweise „Dogtooth“) hat er nicht nur Filme geschaffen, die von Publikum und Kritikern noch heute sehr gespalten aufgenommen und diskutiert werden, sondern auch eine treue Fangemeinde um sich versammelt. Umso erstaunlicher ist es, dass sein internationaler Debütfilm „The Lobster“ noch keinen Release fürs deutsche (Heim)Kino erhalten hat. Denn der ist nicht nur ein herausragendes Stück Film, sondern liefert mit internationalen Stars wie Colin Farrell und Rachel Weisz auch genug Potential für eine gewinnbringende Vermarktung.


Mensch und Tier
Wer Lanthimos kennt, der weiß, dass er in seinen Filmen gerne gesellschaftskritische Themen aufgreift und seine Gedanken in einem parabelähnlichen Mikrokosmus weiterspinnt. Während er in „Dogtooth“ das Bild einer Familie gezeichnet hat, die ihre Kinder fernab der Welt außerhalb des eigenen Hauses großzieht und ihnen dabei ein völlig verqueres Weltbild beibringt, spielt „The Lobster“ selbst schon in einer dystopischen Version unserer Welt. Die Ausgangslage ist dabei merklich simpel, denn in der gezeigten Gesellschaftsform gibt es nichts wichtigeres als die Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen, Singles werden in ein Hotel gesperrt und haben 45 Tage Zeit sich zu verlieben, schaffen sie das nicht, werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und im Wald ausgesetzt. Dieses abstruse Setting zieht Lanthimos konsequent durch und nutzt es als Spielwiese für zahlreiche kreative und abgedrehte Ideen. In der dadurch geformten Welt ist es völlig normal seinen Partner anhand von oberflächlichsten Charaktermerkmalen auszuwählen (Das Paar mit Nasenbluten), für wirkliche Gefühle scheint es keinen Platz mehr zu geben und auch die Kommunikation untereinander ist zweckmäßig und von einer Unfähigkeit zu menschlicher Nähe geprägt. Herrlich ernst und unreflektiert wird dieses Weltbild von seinen Bewohner aufgenommen und selbst die merkwürdigsten Situationen führen nicht zu (Selbst)Zweifel.


Auf der Flucht!
Von einer Erzählstimme aus dem Off angetrieben zieht uns Lanthimos immer tiefer in diese skurrile Welt, erklärt uns Mechanismen und Regeln, zeigt Aufstände und Konsequenzen. Zur Mitte des Films bröckelt das bestehende System, der Protagonist flieht und schließt sich einer Kommune im Wald an, die sich amüsanterweise einem komplett gegenteiligen Weltbild verschworen haben und jegliche Art von Zuneigung und körperlicher Nähe untersagen. Das ist rein inhaltlich natürlich sehr naiv aufgebaut, erhält aber gerade auf der symbolischen Ebene seine Bedeutung und zeigt in herrlich überzeichneter Form ein Spiegelbild der aktuellen Welt. In seiner parabelartigen Struktur kritisiert Lanthimos sowohl den Mensch als Beziehungsmensch, der sich aus reinem Selbstzweck eine Beziehung wünscht und seinen Partner anhand oberflächlicher Vorlieben auswählt, wie auch den ewigen Einzelgänger, der sich selbst und seine Freiheit am meisten schätzt. Mitten in dieses zweigespaltene Weltbild dringt dann jedoch ein kleines Wunder, echte Liebe, die zwar von den verblendeten Protagonisten nicht als solche verstanden wird (Stichwörter: kurzsichtig, Steakmesser!), aber in ihrem Kern genau das ist. Somit ist „The Lobster“ neben all seiner gesellschaftskritischen Brisanz vor allem auch ein Film über die kraftvollste der menschlichen Emotionen, nämlich Liebe.


Auch in internationalen Gewässern macht der Grieche Yorgos Lanthimos wie gewohnt weiter und entwirft mit „The Lobster“ einen höchst eigensinnigen, aber überaus treffenden Film über den modernen Menschen. Während viele Filmemacher bei ihrem internationalen Debüt Kompromisse eingehen um damit eine größere Zielgruppe anzusprechen, bleibt er sich treu und präsentiert abermals eine schwarzhumorige Groteske angefüllt mit gesellschaftskritischer Dringlichkeit. Ein wunderbares Kleinod, das völlig unverdient noch immer auf seinen deutschen Release warten muss.


8 von 10 Hetzjagden durch den Wald

Review: LEVIATHAN - Russische subversive Filmkunst

1 Kommentar:


                                                                                         

Fakten:
Leviathan (Leviafan)
RUS. 2014. Regie: Andrey Zvyagintsev. Buch: Andrey Zvyagintsev, Oleg Negin. Mit: Aleksei Serebryakov, Roman Madyanov, Vladimir Vdovichenkov, Elena Lyadova, Sergey Pokhodaev, ua. Länge: 142 Minuten. FSK: freigegeben ab 12 Jahren. Ab dem 15. Januar 2016 auf DVD und Blu-Ray erhältlich.


Story:
Kolya lebt mit seiner Familie in einem alten Haus am Ufer des Barentssee. Der gierige Bürgermeister der Kleinstadt möchte sein Haus abreißen lassen, um eine Kirche zu errichten und nutzt all seine korrupte Macht, um sein Ziel zu erreichen.

                                                                                   
Meinung:
Der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev gilt seit seinem Langfilmdebüt „Die Rückkehr - The Return“ im Jahr 2003 als absoluter Geheimtipp. Nun hat er seinen mittlerweile vierten Film veröffentlicht, der mit seinem Titel „Leviathan“ auf mehrere Ebenen verweist, die hauptsächlich religiöser-mystischer und politischer Natur sind. Über ein Drittel des Filmbudgets wurde vom russischen Kulturministerium gedeckt und der Film wurde ausgewählt, um bei den Oscars 2015 als bester fremdsprachiger Film abzuräumen. Da wurde das Werk jedoch, nach der bescheidenen Meinung dieses Autoren, von einem fast schon mittelmäßigen Film („Ida“) des Sieges beraubt. Was jedoch viel interessanter ist, als die Oscars, sind die Reaktionen, die es auf den Film gab. Während das Lob von Kritik und Publikum einschlägig positiv war, kam große Kritik vom russischen Kulturminister selbst, der dem Film unpatriotisches Gedankengut vorwarf und kurzerhand ein Gesetz erließ, dass das Verbot derartiger Filme vorsieht. Es ist ein letzter bewahrheitender Schlussstrich unter „Leviathan“.


Schöner wohnen auf die russische Art
Der Film spielt in der Barentssee, ein Teil des Nordpolarmeeres, das an die europäische Küste Russlands grenzt. Es dämmert, gleich wird es ganz dunkel sein. Erst rauscht das Wasser wie in einem letzten Kraftakt in der Brandung, dann liegt es ganz still da und ist nur noch da ganz leise zu vernehmen, wo zahlreiche Gerippe von Booten am Ufer liegen. Die Natur, das Werk Gottes, ist grau, hart, leblos und steht kurz vor der Blässe der Bedeutungslosigkeit. Da, am Ende der Welt, wohnen die Protagonisten von „Leviathan“. Nikolaj, der nur Kolya genannt wird, seine zweite Frau Lilia, sein, aber nicht ihr Sohn Roman wohnen in einem alten Haus, das seine besten Tage wohl nie hatte aber auch nie haben wird. Ein Haus an der Bucht zur See, in einer eigentlich malerischen Gegend, läge nicht ein grauer Schatten über allem. Das alte Haus ist die Heimat von Kolya und seiner Familie, quasi ihr ganzer Besitz und dem Bürgermeister der Kleinstadt ein riesiger Dorn im Auge. Der will das hässliche Gebäude nämlich abreißen und eine schöne große Kirche errichten lassen. Um die Erbarmungslosigkeit des russischen Machtpolitikers Wadim und um den hilflosen Kampf Kolyas wird es hier gehen, eingebettet in die gesellschaftsbezogenen Theorien von Thomas Hobbes, in die Sage des Hiob und garniert mit der Metapher des Leviathan. Dem Wesen Gottes, das zu bändigen nur er im Stande war und dessen Gerippe neben denen der zerstörten Boote liegt.


Zvyagintsev zeichnet ein sarkastisches und zynisches Bild eines Landes, in dem Korruption weit mächtiger und gängiger ist, als der ehrenvolle Blick in den Spiegel oder, Gott bewahre, die Wahrheit. Die Regierung schwelgt nicht nur in Allmachtsphantasien, sie lebt diese. Thomas Hobbes schrieb in seiner staatstheoretischen Schrift, in der er dem mächtigen Staat den Namen des mystischen Wesens gab, davon, dass Gleichberechtigung (und damit innergesellschaftlicher Frieden) nur dadurch zu erreichen sei, dass über dem Volk ein schützendes Oberhaupt stünde, dessen einzige Aufgabe es sei, den Willen des Volkes durchzusetzen. Das Oberhaupt handelt in diesem Fall nie für sich selbst und darf sein eigenes Gewissen et cetera nicht in seine Taten mit einbeziehen. Neid, Habgier und Rachsucht wären damit hinfällig, weil nicht begründbar, bei absoluter Gleichberechtigung. So zumindest die Theorie, was auch Zvyagintsev zu bedenken gibt. Wie treten die Politiker stattdessen in „Leviathan“ auf? Der Bürgermeister wird als dekadenter Mann eingeführt, als gieriger Machtpolitiker, der kein schützendes Oberhaupt ist, sondern ein kleiner Despot, der nichts fürchtet außer Gott und sich selbst. Was seiner Ansicht nach auf das gleiche herauskommt. Wortwörtlich bezeichnet der Bürgermeister Wadim Kolya und seine Familie als Insekten, die in ihrer Scheiße ertrinken. Wenn er in seinem Büro an seinem Schreibtisch sitzt, hängt über seiner rechten Schulter ein Porträt von Wladimir Putin.


Russland ist ein schönes Land...
Genau damit nimmt der Film eine Gestalt an, die von der passiv-subversiven blitzschnell zur offenen Kritik wird. Zvyagintsev selbst reagierte auf die Empörung über seine Kritik an Putin und Russland mit dem kurzen Kommentar, er sei verwundert, weshalb man seinen Film als Dokumentation missverstehe. Damit pocht er ganz bewusst auf seine Freiheiten bei fiktionalen Geschichten, sicherlich auch ein Stück weit als Selbstschutz. Aber es scheint in dieser seiner Antwort mehr zu stecken als nur ein müdes Schulterzucken in Richtung der Kritik. Denn zeigt die Rezeption seines Films, vor allem in seinem Heimatland und Spielort des Films, doch auf, wie sehnsüchtig der Film erwartet wurde - wenn auch nur unbewusst. Es heißt, der Film wurde zu seinem Start in Russland mit einem Witz begleitet; man müsse nur seine Haustür aufmachen und schon hätte man den Film gesehen. Eben weil der Film so ehrlich scheint und so realistisch. Russische regierungsnahe Filmkritiker hingegen werfen dem Film vor, absichtlich ein falsches Bild des Landes zu entwerfen, um dem Westen zu gefallen. Eine verfahrene Situation hat der Film also mit sich gebracht, die es einem Außenstehenden wie dem Verfasser dieser Zeilen recht schwer macht, eine „wahre“ Antwort auf die Frage zu finden, welche der Parteien nun eigentlich richtig liegt.


Bevor man sich nun vorschnell dem spekulativen hingibt, sollte man sich weiter mit Zvyagintsevs 140 Minuten starkem Werk beschäftigen. „Leviathan“ könnte man durchaus als überaus schwarze Komödie oder eine sehr stille Groteske ansehen. Wadim, der Bürgermeister, er erscheint fast schon wie ein Bond-Bösewicht, mit einem stillen Schrank von Mann als Bodyguard, der bei jeder kleinsten Berührung dazwischen kommt und mit einem kurzen Blick klarmacht, was hier Sache ist. Wadim aber ist gar nicht die Hauptperson des Films, er ist Gott in einer von Gott verlassenen Welt, oder zumindest ein Mensch, der versucht dessen Stellung einzunehmen. Kolya ist der Protagonist, der schon zu Beginn vor Gericht einen Prozess um sein Haus verliert und sein Untergang damit seinen Lauf nimmt. Interessant ist hier, wie Zvyagintsev mit den Szenen umgeht, in denen über Recht gesprochen wird und Plädoyers/ Rechtssprüche verlautbart werden. Die Richterin/ der Anwalt rattern ihre Sätze absolut emotionslos runter, ein einziger Schwall von zusammenhanglosen Silben wird auf Kolya und den Zuschauer geschüttet. Orientierung ist nicht erwünscht, Identifikation nicht möglich. Die juristischen Instanzen werden hier als komplett emotionslose Wesen inszeniert. Als eine Übermacht, gegen die alle Mittel zwecklos sind, weil der niemand zu verstehen vermag, was sie antreibt.


Zvyagintsev reichert seinen Film überaus vielschichtig an und belohnt sein faszinierendes Drehbuch mit einer überzeugend intelligenten Inszenierung. Viele für den Film essentielle Dinge passieren außerhalb des Bildausschnittes und sind nur durch Ton zu erfahren oder durch logisches Denken zu erahnen. Die Gewalt, die hier immer wieder vorkommt, wird nie wirklich im Bild gezeigt. Man kann sie durchaus erahnen, manchmal wird sie leicht angedeutet, aber es geht dem Regisseur hier in aller Deutlichkeit eher um die Gründe und die Auswirkungen der Gewalt, nicht um die Tat selbst. Die sind eh nur die Spitze des Eisberges. Aber wie steht es denn im Medium Film um die Handlungen, die nicht gezeigt werden? Ist etwas Ungesehenes im Film nicht ein Äquivalent zum Sturz eines Baums, den niemand hört? Direkter ausgedrückt; existiert das Nichtgezeigte für den Zuschauer oder muss es kategorisch angezweifelt werden? Die Antwort liegt nicht im Film, sondern beim Zuschauer. Mit dem Fortschreiten der Laufzeit wird Zvyagintsev immer direkter, immer gnadenloser, was das Schicksal seiner Figuren anbelangt. Kolya wird weiter zerdrückt, er wird ein weiteres zahlenloses Opfer einer Institution, dessen Korruption und Kriminalität sich selbst nähren. Ein Film über Allmacht, beobachtet aus der Froschperspektive.


Gott ist tot. Er hat den Menschen den Rücken gekehrt, vielleicht angewidert, vielleicht ermüdet. Übrig geblieben sind die, die sich als sein Nachfolger stilisieren und meinen, anderen seinen nicht mehr vorhandenen Willen aufzwingen zu müssen. Einiges ist absurd, in diesem großen Film, einige Momente führen zu herzhaften Lachern, zum überwältigenden (und das ist wohl das ehrlichste Adjektiv für diesen Film) Großteil aber erzählt der Film eine tragische Geschichte. Zvyagintsev ist ein überaus guter Regisseur, der mit schlauen Mitteln seinen Gedanken Form und vor allem Wirkung verleihen kann. Verbindet man die genutzten stilistische Mittel mit dem Inhalt des Filmes und der Beziehung zur politischen und gesellschaftlichen Situation in Russland, dann wird vor allem eines deutlich: „Leviathan“ ist unaufgeregte subversive Filmkunst erster Güte.

8,5 von 10 Skeletten

von Smooli