Review: FREIER FALL – Homosexualität: Ein gesellschaftliches Defizit



Fakten:
Freier Fall
Deutschland. 2013. Regie: Stephan Lacant. Buch: Stephan Lacant, Karsten Dahlem. Mit: Hanno Koffler, Max Riemelt, Katharina Schüttler, Oliver Bröcker, Stephanie Schönfeld, Britta Hammelstein, Shenja Lacher, Maren Kroymann u.a. Länge: 101 Minuten. FSK: ab 12 Jahren freigegeben. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Marc führt eigentlich ein tolles Leben: Er ist verheiratet, bekommt bald sein erstes Kind und steht vor der Abschlussprüfung seiner Polizeischule. Die Eltern sind stolz und alles scheint nach Plan für ihn zu laufen. Bis er seinem Zimmerkameraden Kay näher kommt und bemerkt, dass er nicht nur etwas Neues ausprobieren möchte, sondern sich in ihn verliebt. Seine Familie und das Arbeitsumfeld dürfen davon natürlich nichts wissen, alles verläuft heimlich, und doch, die Wahrheit bahnt sich wie immer ihren Weg an das Tageslicht...




Meinung:
In einer modernen Gesellschaft, in der die heteronormative Ideologie nicht nur unscheinbar durch die Köpfe der Bevölkerung streift, sondern in ihrer diskriminierenden Extremität als anerzogene soziale Norm verstanden werden muss, scheint die gleichgeschlechtliche Ehe nicht nur problematisch für den Mikrokosmos dieser allgemein gehaltenen Strukturen zu sein, auch im privaten Kreis des Vertrauens wird die Homosexualität eines Mitgliedes von Mal zu Mal als elterliches Misslingen der pädagogischen Methodik ausgebreitet: „So haben wir dich nicht erzogen.“, sagt die Mutter von Protagonist Marc (Hanno Koffler), nachdem sie der 'unangenehmen Wahrheit' zufällig auf die Schliche gekommen ist. Ein solcher Augenblick mag einer klischeehaften Motivation folgen, allerdings muss man sich bei einer solchen Ansicht ins Gedächtnis rufen, dass diese 'Klischees' immer ein Produkt aus dem Fundus unserer Realität sind. Und wenn wir – allein als Zuschauer – Teil eines solchen Moments werden, projizieren wir das eigene Verhältnis unentwegt auf die persönliche familiäre Situation und versuchen zu ertasten, wie die Reaktion unserer Liebsten auf ein solches Geständnis verlaufen mag.


Marc und Kay erkunden ihre Liebe.
Die Welt soll sich also im Wandel der Zeit befinden, aus dem Blickwinkel des wissenschaftlichen, medizinischen und technologischen Fortschritts mag das zweifelsohne zutreffen. Geht es aber um den Humanismus und die Offenheit gegenüber individueller Orientierungen, dann scheint es, unser Bewusstsein wäre dem Stillstand nahe, nein, als würde sie sich dieses Bewusstsein des Seins kontinuierlich rückwärts bewegen und wir immer dümmer und feindseliger im Umgang mit unseren Mitmenschen. Und wehe dem Tag, an dem wir endgültig in der Zeitschleife versacken und die 'Akzeptanz' ein moderiger Fetzen längst vergangener Tage sein wird, mit Schnörkeln und überbordenden Verzierungen manifestiert in staubigen Wälzern. Es ist von bezeichnender Natur, dass der Polizeichef in „Freier Fall“ erst an die Konformität innerhalb des Ausbildungstrupps appellieren muss, mit der konkreten Vorahnung, in welche Richtung die Dynamik der Gruppe pulsieren wird, nachdem Kay (Max Riemelt) in der Nacht zuvor besoffen in einem Club für Schwulen aufgefallen ist. Das Gros der Kollegen hat die Klassifizierung Kays allerdings schon längst abgeschlossen, angewiderte Blicke sind da auch nur der Anfang.


Ein schweres Geheimnis wird entlüftet.
Wieder darf von Klischees gesprochen werden, „Freier Fall“ ist durchzogen von Momenten, an denen sich diese unfundierte Formel anbringen ließe, aber es grenzt in diesem Fall schon an einer Art heuchlerischen Selbstbetrugs, zu behaupten, es würde in einem solchen Umfeld nicht zu folgeschweren Auswirkungen (ob psychisch oder physisch) kommen, gerade doch in einem so männerdominierten Milieu. Stephan Lancant macht mit „Freier Fall“ nun mal verdammt viel richtig, gerade auch deshalb, weil sein Film trotz der konventionellen und stellenweise durchaus unausgereiften Dramaturgie nie seinen reflexiven Stellenwert und Bezug außer Acht lässt. Wie reagiert eine Familie, die nach konservativer Perfektion strebt, in dem der Sohn Polizist wird und damit in die Fußstapfen des Vaters tritt. In dem der Sohn kurz davor steht, zum ersten Mal selber Vater zu werden, in Wahrheit aber still und heimlich bemerkt, dass dieses Leben, so makellos es für die mustergültige Denke älterer Generationen auch scheinen mag, nur Unzufriedenheit und Probleme in sich birgt. Kay hat seinen Platz gefunden, auch wenn er sich bis zu einem gewissen Grad vor seiner sexuellen Identität verstecken muss, ist er sich mit seinen Gefühlen im Klaren. Für Marc beginnt ein Prozess, in dem er nicht nur die Möglichkeit auf ein neues Bild seiner Selbst bekommt, sondern auch gleichzeitig sein altes Ich begraben muss.


„Freier Fall“ ist daher auch kein Liebesfilm im eigentlichen Sinne, auch wenn er eine entflammende Leidenschaft zwischen zwei Männern thematisiert. Stephan Lancant hingegen fokussiert ein gesellschaftliches Problem, in dem nicht 'freie Liebe' gilt, sondern die Freiheit nur mit dem harten Fall assoziiert wird. Marc und Kay müssen sich verstecken, die Querverweise zu Ang Lees Meisterleistung „Brokeback Mountain“ sind unverkennbar, auch wenn natürlich die Eckpfeiler verschoben wurden. Von einem lückenlosen, vollends beeindruckenden Beitrag zum Deutschen Kino wird nicht gesprochen werden, aber „Freier Fall“ ist mutig; mutig, weil er ein immanentes Problem beim Schopf packt und es nicht in banale 1x1-Muster verlaufen lässt, die sich am Ende in einem stumpfen Happy-End zusammenraufen. Man kann seine Gefühle nicht verdrängen, man kann sie auch nicht kompensieren und sich so von ihnen ablenken, doch auch wenn man es wagt und zu ihnen steht, gerechtfertigt das noch lange keine Satisfaktion. Und wer genau trägt dafür nochmal die Schuld?


6,5 von 10 Läufen durch den Wald




von souli

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