Review: BLOODY SUNDAY – Der Staat gegen die eigenen Bürger

 

Fakten:
Bloody Sunday – Butsonntag (Bloody Sunday)
UK, Irland. 2001. Regie: Paul Greengrass. Buch. Paul Greengrass. Mit: James Nesbitt, Allan Gildea, Mary Moulds, Tim Pigott-Smith, Christopher Villiers, James Hewitt, Gerard Crossan u.a. Länge: 110 Minuten. FSK: Ab 12 Jahren freigegeben. Auf DVD erhältlich.


Story:
Anfang 1972 plant die katholische Bürgerrechtsbewegung im englisch besetzten Nordirland regelmäßige friedliche Umzüge in der Kleinstadt Derry nach dem Vorbild der Protestmärsche der Schwarzen in Amerika. Das von IRA-Attentaten aufgeschreckte britische Militär untersagt alle Demos und zieht schon mal grimmige Fallschirmjäger zusammen, um für Ausschreitungen gewappnet zu sein, oder zur Not selbst solche zu provozieren. Nach Steinwürfen fliegt scharfe Munition, die Situation eskaliert.




Meinung:
„Ich unterstütze diesen Film, da ich glaube, dass [dadurch] mehr Leute, die diesen Film sehen, das Unrecht sehen werden, die an diesem Tag erstens durch die [britische] Armee, und dann auch durch die Bemühungen der [britischen] Regierung selbst begangen wurde, die versuchten, den Schaden, den sie angerichtet hatte, zu vertuschen […] das ist die Mission meines Lebens.“ 
 Ivan Cooper, nordirischer Politiker und Bürgerrechtler.


Han shot first. Das weiß bis auf George Lucas beinahe jeder Mensch auf dieser Welt. Ja, er hat in der echten Version von „Krieg der Sterne“ zuerst geschossen. Aber diese Frage war auch relativ leicht zu klären. Viel schwieriger war es, zu rekapitulieren, wer am 30. Januar 1972 in der nordirischen Stadt Derry zuerst geschossen hat. Demonstranten der katholischen Bürgerrechtsbewegung? Oder doch das britische Militär?


Nicht schießen, wir sind unbewaffnet!
Aber halt, der Reihe nach. In Nordirland kam es Anfang der 1970er Jahre immer wieder zu, meist friedlichen, Protesten von Katholiken und Republikanern gegen die von der britischen Regierung eingeführte Internment-Politik, die es den Behörden erlaubte, politische Gegner ohne wirklichen Grund festzuhalten und einzusperren, somit Bürgerrechte mit Füßen trat und vehement zur Verschärfung des Nordirlandkonflikts beitrug. An jenem 30. Januar 1972, der als „Bloody Sunday“ in die Geschichte Nordirlands eingehen sollte, kam es zu einer Demonstration, organisiert vom protestantischen Politiker und Bürgerrechtler Ivan Cooper. Doch die friedliche Demonstratione eskalierte und einige Demonstranten, wohl überwiegend unbewaffnet, wurden von britischen Soldaten getötet oder zumindest schwer verletzt. Paul Greengrass, der aktuell mit dem Film „Captain Philipps“ in den Kinos zu sehen ist, versuchte im Jahr 2001 die Ereignisse aus der damaligen Zeit in seinem semidokumentarischen Spielfilm „Bloody Sunday“ darzustellen.


Dabei konzentriert sich Greengrass fast ausschließlich auf die Geschehnisse des 30. Januars, die Vorgeschichte und die Folgen werden nur marginal gestreift. Mit Hilfe seiner berüchtigten Wackel- oder sagen wir besser Handkamera erzeugt er ein relativ authentisches Bild der eskalierenden Gewalt zwischen den britischen Soldaten, einigen gewaltbereiten Jugendlichen und den letztlich leidtragenden Beteiligten des großen, friedlichen Demonstration, die „We shall Overcome“ singend die Straße entlangläuft. Die teilweise vielleicht zu kurzen Szenen sind zwar etwas gewöhnungsbedürftig und lassen es auch nur schwer zu, schon früh eine emotionale Bindung zu den Figuren aufzubauen, ist aber letztlich für den Stil des Films unverzichtbar. Zudem fehlt in „Bloody Sunday“ auch komplett die musikalische Untermalung, was dem Doku-Charakter noch einmal zu Gute kommt. Die Geräusche, die Schüsse, die Schreie der Menschen und manchmal auch die Stille erzeugen eine authentische und bedrückende Stimmung.



Thematisch wird nicht nur der Blutsonntag in Nordirland dargestellt, sondern auch die Unzufriedenheit der nordirischen Bevölkerung. Auch die Frage, was denn eine angemessene Reaktion des Militärs auf diverse Provokationen einiger sei, wurde beleuchtet. Ob das nun wirklich gut gelungen ist, das sei dahin gestellt, aber klar wird zumindest, dass das Massaker, das das Militär in Nordirland veranstaltet hat, ein sinnloses, brutales, übertriebenes Blutvergießen war, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt. Einigermaßen Schade ist allerdings, dass Greengrass eben nur auf den Blutsonntag selbst eingeht. Die hochbrisanten Hintergründe bleiben für Leute, die keine Vorkenntnisse über die Ereignisse oder die Politik haben, im Dunkeln. Der Einfluss der IRA in Nordirland, die politischen Repressionen der Regierung, die Konsequenzen und längerfristigen Folgen des militärischen Eingreifens – leider spielt das alles eine viel zu kleine Rolle im Film.


Die Trauer nach dem Blutbad ist unermesslich groß
James Nesbitt, der im Film Ivan Cooper, den Anführer der Bürgerrechtsbewegung spielt, schafft es durch seine Darstellung, der Bewegung auch das Gesicht zu geben, was durch die Schnitte vielleicht etwas verhindert wird. Er ist zentrale Figur und zeigt sowohl Hoffnung auf Besserung wie auch die letztlich Verzweiflung vor so viel Brutalität. Der Film macht betroffen, macht sprachlos, macht sauer wegen so viel Willkür, wegen so viel unnötiger Gewalt. 1972 wurde eines der blutigsten Jahre im Nordirlandkonflikt, die radikale IRA erhielt in Folge der Eskalation in Derry so viele Zuläufe wie selten zuvor. Die Soldaten bekamen keine Strafen für ihr Handeln. Für seinen Film erhielt Paul Greengrass auf der Berlinale den goldenen Bären 2002. Acht Jahre später wurde von der britischen Regierung ein 5000 Seiten umfassender Bericht veröffentlicht, worin die Zahlen an Todesopfern und Schwerverletzten bestätigt wurden. Worin die Schuld dem britischen Militär zugesprochen wurde. Und worin nun auch endgültig bestätigt wurde, was alle eigentlich bereits wussten: The army shot first.


„Ich möchte der britischen Regierung sagen: Das haben Sie heute getan. Sie haben die Bürgerrechtsbewegung zerstört und Sie haben der IRA einen unvorstellbar großen Sieg beschert. Überall in dieser Stadt werden Jugendliche und Männer heute Mitglied in der IRA. Sie ernten einen Sturm von Ihnen gesät.“


8 von 10 blutgetränkte Flaggen für Bürgerrechte



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