Review: BLAU IST EINE WARME FARBE – Die intensive Symphonie der Fleischeslust



Fakten:
Blau ist eine warme Farbe (La vie d'Adèle, chapitres 1 & 2)
Frankreich, Belgien, Kanada. 2013. Regie: Abdellatif Kechiche. Buch: Ghalia Lacroix, Abdellatif Kechiche, Julia Maroh (Vorlage). Mit: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Catherine Salée, Karim Sandi, Sandor Funtek, Jeremie Laheurte, Aurélien Recoing u.a. Länge: 180 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Adèle, 15 Jahren alt, tut für den beliebten wie attraktiven Thomas fast alles. Doch eigentlich träumt sie nicht von ihm, sondern von der Kunststudentin Emma, die dank ihrer blaugefärbten Haare in jeder Menschenmenge auffällt. Adèle und Emma lernen sich kennen und sogar lieben, doch diese Liebe bringt Probleme und Komplikationen mit sich.





Meinung:
Es ist das Schmatzen und Keuchen, das Kratzen und Zittern, welches Kritiker aus aller Welt zu einem beinahe einheitlichen Echo des Lobes hinreißen lässt. Es ist der Hyperrealismus, an dem man sich enthusiastisch laben oder erbost stoßen kann: „Blau ist eine warme Farbe“ kennt keine Distanz zu seinen Figuren, wie auch die Liebe in ihrer gefühlsechten Berg- und Talfahrt im echten Leben jede Nüchternheit eines Betroffenen aberkennt. Dass der Gewinner der Goldenen Palme von Cannes aber selbstredend auch mal jenes universell wahrnehmbare Zungeschnalzen des Feuilleton auslassen kann, gleicht zwar fast einem Mythos, lässt sich aber dennoch zum Glück nicht vermeiden, gerade bei einem derart polarisierenden Film. „Blau ist eine warme Farbe“ ist ein unbedingt sehenswertes Segment des Arthouse-Kinos und könnte mit Glück den allgemeinen Blick auf die Comic-Szene, denn auf der gleichnamiger Graphic Novel von Julie Maroh basiert Abdellatif Kechiches Film, in einem neuen Licht erstrahlen lassen. Doch es folgt das große "Aber".


Heute ist Buddy-Tag
Obgleich „Blau ist eine warme Farbe“ zweifelsohne sehenswert bleibt, darf sich schon eine klare Ernüchterung nach der Konsumierung des Films breitmachen, gerade nach den überschwänglichen Besprechungen. Von einem sinnstiftenden Meisterwerk, dessen Genialität die Grenzen des sensitven Kinos sprengt und gleichwohl neudefiniert, sind wir dann doch wiederum einige Schritte entfernt. Für Regisseur Abdellatif Kechiche gilt „Blau ist eine warme Farbe“ als Herzensprojekt; ein Werk, an dem der Auteur Jahre arbeitete, in das er unendlich viel Zeit investierte und es immer wieder von Neuem zugeschliffen hat. Und 2013 wurde dann endlich die Uraufführung bei den Filmfestspielen von Cannes ermöglicht – Genau dort, wo dieser Film nun mal auf hingehört, honoriert von einem der letzten wirklich ernstzunehmenden Filmpreise und rezipiert von fachkundigem Personal vor Ort. Dass „Blau ist eine warme Farbe“ zu Zeiten flammender politischer Kontroversen im Umgang mit der gleichgeschlechtlichen Ehe derart geadelt wird und ein solch enormes Maß an Aufmerksamkeit gezollt bekommt, mag nach absehbarer (Marketing-)Strategie klingen.


Nein, das Bild stammt aus dem Film, nicht aus einer Parfüm-Werbung
Daran jedoch, und das wird schnell deutlich, nimmt man die Akribie seitens Kechiches in der Pre-Produktion einmal etwas genauer unter die Lupe, ist der Film keinen Deut interessiert. Genauso will er nicht als Statement gelten, als ein Aufruf, der wachrüttelt und so dann doch in politiBsche Dimensionen vorstößt. In „Blau ist eine warme Farbe“ geht es um die Liebe, pur und unverstellt, ihre Auswirkung und die letzte Konsequenz ihrer Kraft, mit einem lachenden und weinenden Auge über eine erstreckende Laufzeit von beinahe drei Stunden porträtiert. Abdellatif Kechiche definierte diese fokussierte Liebe über die Körperlichkeit seiner Protagonistinnen Adèle und Emma; über die gegenseitige Begierde, die Lustbefriedigung, den Drang, das pulsierende Verlangen mit der Zunge, den Lippen, den Fingern, harten Stößen und sanften Berührungen zu stillen. „Blau ist eine warme Farbe“ erweckt dabei zeitweise den despektierlichen Eindruck, sein homosexuelles Beziehungsgeflecht auf ihre Triebe zu reduzieren und die sexuelle Komponente nicht „auch“ in das Geschehen zu integrieren, sondern die Liebe der beiden Frauen über diese zu erklären. Als kreise das feste Zusammensein Adèles und Emma immanent um den physischen Akt der Liebe.


Gleich knallt's... oder es sprühen Funken
Ungezügelter Geschlechtsverkehr steht über der Sinnlichkeit einer aufrichtigen, einer auf Vertrauen basierenden und auf der unerschütterlichen Absolutheit von echter Zuneigung? Adèle bringt es später im Film in eigenen Worten auf den Punkt, wenn sie in einem Café um ihre Verflossene Emma kämpft: „Du vermisst 'es' doch auch“, haucht sie ihr lusterfüllt ins Ohr, während ihre Hand zwischen den Schenkeln Emmas verschwindet. 'Es', nicht 'Mich'. Adèle sehnt sich nach den Rundungen und den Öffnungen ihrer „ersten echten Liebe“, Emma jedoch scheint in diesem Moment aufzuwachen, realisiert zu haben, worum es Adèle wirklich geht – Und verschwindet. „Blau ist eine warme Farbe“ ist in diesen Augenblicken, wenn er die Liebe als reine Fleischeslust demaskiert, nie das, was er eigentlich sein sollte und immer das, was er nicht sein darf: Konventionell, absehbar und aus einer offensichtlichen heterosexuellen Perspektive geschildert. Und damit eben auch Lichtjahre vom grenzensprengenden Naturalismus eines „Brokeback Mountain“ entfernt. Auch wenn genau diese Wege bis zu einem gewissen Grad aus der Naivität, der wankenden Unsicherheit Adèles keimen.


Sinnlichkeitsblick in Perfektion
Das klingt nun reichlich harsch, aber von echter Liebe möchte man hier irgendwann nicht mehr sprechen, denkt man doch, das Zehren nach erfüllter Sexualität als Fixstern der Konzeption zu erkennen: Adèle träumt von Sex, nicht von Romantik, Adèle nutzt Sex als Kompensation der angeblichen Einsamkeit und Adèle will mit ihren körperlichen Reizen manipulieren, als ob es ihr letztlich genügt, wenn Emma sie als gute Bettgesellin akzeptiert, nicht aber als treue Seele, als faszinierenden Menschen mit Charakter. Vollkommen unproblematisch lassen sich aber die so lächerlich feurig debattierten Sexszenen festhalten, die in ihrer Länge und Praktik durchweg im Kontext der Handlung verankert sind und keinesfalls als „Lesben-Pornografie“ stigmatisiert werden. Sex gehört nun mal in jede gesunde Beziehung, doch er sollte sie nicht kontrollieren, und damit liegt das Problem in der Aussage von „Blau ist eine warme Farbe“ an einer ganz anderen Stelle begraben. Viel strittiger, wenn man schon auf die reine Darstellung eingehen möchte, zeigt sich eine Duschszene von Adèle gegen Ende, in der sich die Kamera an ihrem glänzenden und von Schaumflecken übersäten Körper festsaugt. Voyeurismus? Na, na, na.


Darüber hinaus aber ist „Blau ist eine warme Farbe“ ein wirklich gelunger Film, der im ersten Kapitel, in der Adèle ihre sexuelle Identität erforscht (Verweise folgen immer wieder auf Pierre Carlet de Marivaux' „La Vie de Marianne“, während einzelne Figur als denkbar kreativlose Schlagwortgeber auftreten, um den Ball immer wieder ins Rollen zu bringen), zwar offensichtlich konstruiert und absehbar standardisierten Eckpfeilern jener Lovestory-Dramaturgie wie ein Malen-nach-Zahlen-Quarell abgrast, das intensive Spiel von Adéle Exarchopoulos und der noch stärkeren Léa Seydoux aber ganz zum eigenen Vorteil ausnutzen kann, die wirklich ungekünstelte und mit vollem Körpereinsatz ausgetragene Charakter-Porträts offerieren. Immer ganz nah an den Figuren folgen wir ihnen durch den Alltag, werden Zeuge, wie Adèle von der symbolischen Farbe Blau verzaubert wird, wie sie Besitz von ihr ergreift und dann langsam wieder verschwindet – Und wenn es erst mal nur in Form des roten Nagellacks auf ihren Nägeln ist. Die Liebe kommt, die Liebe geht, aber hartnäckige Fetzen von ihr bleiben doch immer im Herzen eingebrannt. Man kommt nicht drumherum, „Blau ist eine warme Farbe“ als guten Film zu deklarieren, der in seinen stärksten Momenten eine subtile Intensität evoziert, der man sich nicht entziehen kann. Aber ein Bravourstück der Extraklasse? Nun ja...


6 von 10 großen Portionen Spaghetti


von souli

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