Review: WILDE ERDBEEREN – Ein Steinklotz reist in sein Inneres



Fakten:
Wilde Erdbeeren (Smultronstället)
Schweden. 1957. Regie und Buch: Ingmar Bergman. Mit: Victor Sjörström, Ingrid Thulin, Bibi Andersson, Gunnar Björnstrand, Folke Sundquist, Jullan Kindahl, Naima Wifstrand, Sif Ruud, Getrud Fridh u.a. Länge: 92 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Isak, ein Professor, hat sich nach dem Tod seiner Frau und seines Sohns von seinem sozialen Umfeld zurückgezogen. Ein wenig hält er noch Kontakt zu seiner Mutter, doch nur seine Haushälterin sowie seine Schwiegertochter Marianne lässt er in seiner Nähe zu. Doch zu seinem Promotionsjubiläum wagt sich Isak erneut unter Menschen. Mit dem Auto fährt zur Feierlichkeit und nimmt Marianne mit sich. Auf der Reise wird er jedoch immer wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert.





Meinung:
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem uns das Leben von ganz allein endgültige Antworten auf existentielle Fragen liefert, denen wir uns in Wahrheit doch eigentlich nie stellen wollten. Es ist die Zeit, in der sich der Mensch seiner Sterblichkeit in vollem Umfang bewusst wird; in der er akzeptieren muss, das Vergangenes nicht mehr geändert, Entscheidungen, die gefällt wurden, nicht mehr widerrufen und Worte, die gesagt wurden, nicht mehr zurückgenommen werden können. Ingmar Bergman erläutert diese Stufe, die wir alle früher oder später erreichen, in „Wilde Erdbeeren“anhand des Isak Borg, einem renommierter Medizinprofessor, der beschließt, zu seinem 50-jährigen Promotionsjubliläum nicht mit der Flugzeug, sondern mit dem Auto anzureisen. Diese Fahrt wird für ihn zur episodenhaften Exploration in die eigene Vergangenheit: Wie konnte er nur zu so einem gefühlskalten Menschen vegetieren? Wie hat er es geschafft, sich derartig von all den Menschen abzukapseln, die eigentlich die wichtigsten in seinem Leben sind? Ist seine Einsamkeit letztlich nur die logische, gerechte Konsequenz seiner bitteren Unfähigkeit zwischenmenschliche Beziehungen bedingungslos zu pflegen?


Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist depressiv
Ingmar Bergman versteht es in „Wide Erdbeeren“, die Thematik, trotz ihrer Schwere, mit einer Leichtigkeit und Verve zu formulieren, die den Ernst der Lage keinesfalls minimiert, die substantiellen Maschen aber ein stückweit auflockert und Bergmans inhaltlichen Entschluss so nachhaltig zu unterstreichen weiß: Wir können unsere Fehler zwar nicht mehr rückgängig und vertane Chancen nicht mehr nutzen, doch es ist nie zu spät, Reue zu zeigen, die bestätigt, dass man doch noch Mensch und nicht nur Steinklotz war. Isak Borg muss erst von seinem Tode träumen, er muss sein Antlitz erst in einem Sarg liegen sehen, bis er versucht, sein Dasein zu hinterfragen. Dass „Wilde Erdbeeren“ formal in seiner exquisiten Lichtsetzung und dem kontrastreichen wie stilvollen Schwarz-Weiß-Kolorit eine stimmungsvolle Klasse besitzt, zu der in dieser sorgfältigen Bestimmtheit, in dieser beinahe pedantisch anmutenden Akkuratesse, nur die Speerspitze der Branche in der Lage war, wird schnell deutlich; und es versteht sich fraglos von ganz allein, dass ein Kaliber wie Ingmar Bergman in diesen elitären Kreis einen Stammplatz besaß.


Die bloßen Bildkompositionen der Traumsequenzen sind von einer unnachahmlichen Dichte geprägt, von einer durch und durch ästhetischen Sogwirkung, der man sich schnell geschlagen geben muss gleichwohl die inhaltlichen Aspekte akzentuiert. „Wilde Erbeeren“ ist ein philosophischer Diskurs, eine introspektive wie motivische Reflexion über Religion, das Leben selbst und den sicheren Tod. Bergman artikuliert das Innenleben seines Akteurs Isak durch seine repetitiven (Alp-)Träume, durch das sommerliche Umfeld, welches er mit dem Auto und seiner Schwiegertochter auf dem Beifahrersitz durchquert, die einzelnen Stationen, die Beide auf seiner Reise passieren und den währenddessen auftretenden Personen, die in ihm Erinnerungen wecken. Die dafür sorgen, Verstrichenes, Verflossenes, Vergessenes ein letztes entscheidendes Mal zu rekapitulieren, alles noch einmal zu vergegenwärtigen. Und auch wenn es vielen unmöglich scheint, man kann sich auch im hohen Alter doch noch bessern, selbst wenn Geschehnisse nicht mehr zu verändern sind - Bergman beweist dies einfühlsam, aufrecht, effektiv und mit dem süß-säuerlichen Geschmack der feuerroten Erdbeeren auf der Zunge.


8 von 10 weiße Kleider


von souli

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen