Review: SCHWARZER ENGEL – De Palma serviert ein Vertigo für Begriffsstutzige

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Fakten:
Schwarzer Engel (Obsession)
USA. 1976. Regie: Brian De Palma. Buch: Paul Schrader. Mit: Cliff Robertson, Geneviève Bujold, John Lithgow, Tom Felleghy, Stocker Fontelieu, Sylvia Luumba, Wanda Blackman, Nick Krieger, J. Patrick McNamara u.a. Länge: 95 Minuten. FSK: freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD erhältlich.


Story:
New Orleans, 1959: Immobilienkaufmann Michael will eigentlich mit seiner Frau Hochzeitstag feiern, doch jemand hat sie und die gemeinsame Tochter entführt. Die Polizei, an die sich Michael wendet, kann wenig ausrichten. Als es zur Geldübergabe kommt passiert eine Katastrophe. Doch dies ist nur der Anfang.





Meinung:
Nach einigen Kurzfilmen wie „Wotons Wake“ oder „Jennifer“, der Komödie „Hi, Mom!“ (1970) mit einem blutjungen Robert De Niro in der Hauptrolle, der Hitchcock-Hommage „Die Schwestern des Bösen“ (1973) und der grotesken Neuinterpretation des Gaston Leroux Romans „Das Phantom der Oper“ mit dem Titel „Das Phantom im Paradies“, beauftrage De Palma den legendären Drehbuchautoren Paul Schrader („Taxi Driver“) dazu, ihm einen Vorentwurf für ein Drehbuch zu modellieren, dessen Geschichte an Fjodor Michailowitsch Dostjewskis „Der Spieler“ angelehnt ist. Nachdem sich die beiden Koryphäen aber gemeinsam „Vertigo“ ansahen, wurden alle Pläne über den Haufen geworfen und zusammen ein Skript verfasst, ganz an Hitchcocks Opus magnum orientiert. Dass De Palma eine ganz besondere Beziehung zu „Vertigo“ pflegt, sollte sich in seinem weiteren beruflichen Werdegang noch so manches Mal abzeichnen. So offensichtlich und gleichzeitig auch unmotiviert, wie er in „Schwarzer Engel“ Hitchcocks Klassiker rekonstruiert, sollte De Palmas Ägide allerdings nicht mehr ausfallen.


Vaseline und eine Kameraobjektiv - Never change a winning team
Unterstützt vom Breitbildformat saugt sich Vilmos Zsigmonds Kamera an den architektonischen Sehenswürdigkeiten von New Orleans und Florenz fest: Die städtischen Abbilder fungieren als emotioneller Ausdruck des Seelenzustandes seiner Protagonisten. Symbolträchtige Nebenwaben umschlingen dabei nicht nur die anmutigen Gebäude, auch die Charaktere drohen sich oftmals in ihnen zu verlieren. Was visuell mit unzähligen Reizbildern ausgestattet ist – allgemein lebt De Palma seine formale Brillanz hier vollends aus -, zeigt in seinem sinnbildhaften Charakter auf dieser Ebene bereits früh Abnutzungserscheinungen und steht gar konträr zur Auffassung seines filmischen Vorbildes: Was sich bei Hitchcock subtil im Verborgenen entfalten durfte, folgt bei De Palma einer plakativen Attitüde, in der De Palma dem Hang erliegt, wirklich alles ausbuchstabieren zu müssen. „Schwarzer Engel“ bemüht sich darum, eine Atmosphäre zu erschaffen, die einem anhaltenden Traumzustand ähnelt, einer verschwommenen Irrationalität, nicht umsonst wird „Schwarzer Engel“ zu Anfang einer beabsichtigten Überbeleuchtung unterzogen, um das Szenario auch penetrant ins Unscharfe zu drängen – Milchig bleiben die penibel kalibrierten Fotografien aber über die gesamte Laufzeit.


De Palmas Kritiker
Optisch entspricht „Schwarzer Engel“ daher auch eher Alfred Hitchcocks Oscarerfolg „Rebecca“, in dem Laurence Olivier nach dem Tode seiner Frau von ihrer Präsenz eingenommen wird. Eine Referenz, die De Palma in „Schwarzer Engel“ auch inhaltlich behandelt, nur verwebt er sie in ein Familiendrama um Vater Michael (Cliff Robertson, der Onkel Ben aus Sam Raimis "Spider-Man"-Filmen) und seiner Tochter Sandra (Genevieve Bujold), welches sich ganz an den Eckpfeilern von „Vertigo“ abhandelt. Anstatt also nur mit einem nekrophilen Subtext, wie Hitchcock, aufzuwarten, presst das Drehbuch noch eine inzestuöse Note in das Geschehen, die Michael zwar nur im Traum (wo auch sonst?) ausleben darf, dennoch einen faden Beigeschmack in ihrer expliziten Konstellation auf der Zunge hinterlassen. Die Obsessionen, die morbide Besessenheit, der, wie schon James Stewart, Cliff Robertson hier unterliegt, werden auf einem weichen, einem durchaus mit erkennbarer Sensibilität geschilderten Gefühlsfundament entfaltet und kulminieren zwischen kindlichen Traumata und der Suche nach Läuterung von alten Sünden. Mit wirklich treffsicherer Symbolik wartet da auch nur die Szene auf, in der Sandra ein Wandfresko restauriert und die untere Schicht, wie die Vergangenheit, nach Meinung Michaels überarbeiten soll.


Psychologisch aber fehlt „Schwarzer Engel“ die Inspiration und kreiselt sich wortwörtlich gegen Ende in ein pathetisches Finale, um den Eindruck zu verstärken, dass sich De Palma und Schrader hier einzig mit exponierter Seriosität brüsten, denn wirklich ein tiefgehendes Seelendrama präsentieren zu wollen. Wo sich De Palma später, beispielsweise mit „Dressed to Kill“, „Blow Out“ oder „Der Tod kommt zweimal“, noch einige Male auf die Wechselwirkung zwischen Realität und Fiktion berufen wird, auf die menschliche Doppelung und die Suche nach Erlösung, seinen Filmen aber immer eine klare Luzidität im Umgang mit ihrer Ambivalenz lässt, ist „Schwarzer Engel“ immer genau das, was er auch gerade zeigt, ohne doppelten Boden, ohne schelmisches Augenzwinkern, nur kitschig und – was gerade in Anbetracht der Intention paradox scheint – seltsam klar. Bernard Herrmanns Score, bewusst melodramatisch übersättigt, drückt „Schwarzer Engel“ letztlich noch seinen Stempel auf. Das kannst du besser, Brian.


5 von 10 schicksalhaften Täuschungsmanövern


von souli

Review: THE HUMAN RACE - Das Betreten der Grünfläche ist untersagt

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Fakten:
The Human Race
UK. 2013.
Regie und Buch: Paul Hough. Mit: Paul McCartney-Boyington, Eddie McGee, Trip Hope, B. Anthony Cohen, Richard Gale, Domiziano Arcangeli, Marco Capem, Mark Hampton u.a. Länge: 87 Minuten. FSK: freigegeben ab 18 Jahren. Ab 19. Mai auf  DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
80 Menschen, allesamt entführt von einer unbekannten Macht, finden sich in einem so einfachen wie perfiden Spiel wieder: Wer nicht auf dem vorgegebene Pfad bleibt stirbt einen grausamen Tod.





Meinung:
Das Betreten der Grünfläche ist untersagt. Eltern haften für ihre Kinder.“ Dieses, vor allem in deutschen Breitengraden, bekannte Schild spiegelt die Geschichte von „The Human Race“ eigentlich perfekt wider. Wobei der zweite Satz durch „Bei nicht Einhaltung wird ihr Kopf explodieren“ ersetzt werden sollte, denn genau dass blüht jedem der Figuren des Films, wenn ihre Füße, Hände oder Körper das weiche Grün berühren. Ist „The Human Race“ etwa der feuchte Splatter-Traum eine s jeden, spießigen Hausmeisters? Verbirgt sich hinter dem britischen Low Budget-Film ein Werk, welches interpretativ zu mehr wird als nur billig aussehendes Blutvergießen? Oder handelt es sich dann doch nur um einen filmischen Schnellschuss, in dem die falschen Leute, mit der falschen Idee die falsche Berufsentscheidung getroffen haben und einen Film inszeniert haben?


Endlich bekommen Rasentrampler ihre gerechte Strafe
Während die unbekannte Macht undefinierbar bleibt, zeigt sich die Absicht der Filmemacher recht rasch: sie zelebrieren nach zerplatzten Köpfen vor allem die menschliche Überlebenslogik: die Großen fresse die Kleinen. Wer überleben will nutzt auch schmutzige Tricks und Gnade gibt es nicht. Kurz: es gibt ein Wiedersehen mit der Bestie Mensch. Ja, die böse Bestie Mensch, die muss hier mal wieder erhalten, um einen inhaltlich wie inszenatorisch misslungen Filmbeitrag aufzuwerten. Oh ja, diese Botschaftsträchtigkeit, die „The Human Race“ besitzt lässt sich nicht ausblenden. Ernst zu nehmen ist sie aber auch nicht, denn wie hier versucht wird mit billigsten Schauwerten, öden Charakteren und einer Schein-interessanten Geschichte eine kritische, gesellschaftliche Abhandlung zu erzeugen, geniert ein Kopfschütteln, die den optisch eh bereits schwammigen Film vollends unschaubar macht. Selbst nimmersatte Splatterheads und Gorehounds werden enttäuscht, denn wird zu Beginn die Kunstblutpumpe noch einigermaßen oft bedient, so bleibt sie im weiteren Verlauf eher im Schrank stehen. Dort verweilt auch so etwas wie ein charakterlicher Fixpunkt, denn „The Human Race“ verzichtet darauf, seinen Publikum so etwas wie den oder die Helden anzubieten.


Gleich zu Beginn befördern sich die handelsüblichen Kandidaten für diesen Job via Kopfexplosion ins Jenseits. Nicht schlecht, würde Regisseur und Autor Paul Hough diesen Knalleffekt dafür nutzen, um neue, überraschende Fixierungen in der Handlung zu erschaffen, doch alle Kandidaten (egal ob gut, böse, ambivalent) bleiben konturlos wie die Kandidaten einer Quizshow. Das liegt auch an den teilweise wirklich überforderten Laiendarstellern. Echte Schauspieler konnte sich Hough gewiss nicht leisten, dass verwundert aber nicht, denn bereits nach kurzer Zeit wird klar, dass sich „The Human Race“ auf technischer Seite in den tiefen Gefilden von Amateurfilmen aufhält. Schnitt, Kamera, Effekte, alles befindet sich in einem desolaten Zustand. Nun machen solche Querelen noch lange keinen schlechten Film, allerdings fügt sich das mangelnde Talent vor und hinter der Kamera, die diffus-löchrige wie stupide Geschichte und marktschreierische Aburteilung am gemeinen Menschen zu einem großen Gesamtwerk des bloßen, unfähigen Unfugs zusammen.


1 von 10 Grünanlagen

Review: RENDEZVOUS MIT JOE BLACK – Schmalzige Begegnung mit dem Tod

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Fakten:
Rendezvous mit Joe Black (Meet Joe Black)
USA. 1998. Regie: Martin Brest. Buch: Bo Goldman, Ron Osborn, Jeff Reno, Kevin Wade, Alberto Casella (Vorlage). Mit: Brad Pitt, Anthony Hopkins, Claire Forlani, Marcia Gay Harden, Jeffrey Tambor, Jake Weber, June Squibb, Davis S. Howard u.a. Länge: 173 Minuten. FSK: freigegeben ab 6 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Unternehmer William Parrish steht kurz vor seinem 65. Geburtstag, doch diesen soll er nicht mehr erleben, zumindest wenn es nach dem Tod geht. Der kommt eigentlich, um ihn zu holen. Doch da sich der Tod in Parrishs Tochter verliebt hat, gibt er William eine Frist und wird ein Gast der Familie Parrish.






Meinung:
Überall begegnet dem Menschen der Tod – Tag ein, Tag aus. Ob in den Nachrichten, wo Tränen geflutete Gesichter nach Naturkatastrophen und Attentaten ihren Liebsten hinterher trauern, im weiten Kreis der Bekanntschaft, in dem ein ehemaliger Schulkamerad seinem Krebsleiden nach langem Kampf endgültig erlegen ist oder im privaten Umfeld, in dem ein Familienglied nicht mehr aufgewacht ist, obwohl sie doch am Vortag noch quicklebendig am Tisch über das schlechte Wetter gepoltert hat. Schon in frühster Kindheit müssen wir lernen was Abschied bedeutet. Abschied von Menschen, von Haustieren, die wir ins Herz geschlossen haben, doch verstehen können wir nicht, warum sie uns von Jetzt auf Gleich für immer verlassen müssen. Die Angst vor dem Tag, an dem uns der Tod einholt, wächst; die Angst davor, dass es doch kein Leben danach geben könnte, brennt sich in unser Innerstes. Als Erwachsener erleuchtet uns die Präsenz des Todes trotz angeeigneter Reife auch nicht unbedingt, wir können höchsten versuchen, ihn zu akzeptieren und uns über lange Sicht mit unserem Schicksal irgendwie anfreunden.


Gestatten, der Tod
Und doch kann man sich nicht auf den entscheidenden Tag, den entscheidenden Moment, vorbereiten. Wie reagieren wir, wenn es wirklich soweit ist? Welche Worte wählen wir, welches Gefühl durchströmt unseren Körper, wenn uns der Tod gegenübertritt und uns die Gewissheit ereilt, Abschied von unserer Welt, unserem Leben, unserer Hülle und vielleicht auch von unserem Geist zu nehmen? „Rendezvous mit Joe Black“ nistet sich thematisch genau in diesen Augenblick der Gewissheit ein und lässt Anthony Hopkins („Das Schweigen der Lämmer“, „Nixon“) als William Parrish in die blauen Augen des attraktiven Todes (Brad Pitt, „Sieben“, „World War Z“) blicken. Der Tod, aus der Not heraus von Parrish passend Joe Black getauft, verweilt auf der Erde und möchte das Leben kennelernen, bevor er sich wieder in seine ferne Sphäre zurückzieht. Wenn er allerdings geht, dann ist auch für den Großunternehmer Parrish die Zeit auf Erden abgelaufen, da sollte Parrish die amour fou zwischen Joe Black und seiner Tochter Claire Forlani („The Rock“, „Mystery Men“) gerade recht kommen, doch Parrish ist damit natürlich auch nicht zufrieden, weil er sich eben um sein liebes Töchterlein sorgt, denn eine Liaison mit dem Tod höchstpersönlich klingt ja nicht unbedingt gesund.


Gestatten, Anthony Hopkins
Was hätte „Rendezvous mit Joe Black“ für eine hochinteressante Reflexion über die Akzeptanz, über die Annahme der menschlichen Vergänglichkeit werden können, würde die Intention nicht so offensichtlich in eine ganz andere Richtung schielen. „Rendezvous mit Joe Black“ besitzt in seinen A-sätzen gewiss einen ansprechend parabolischen Charakter, verschiebt seine Handlungsachse im Laufe der Zeit aber immer penetranter auf die schmalzig ausbuchstabierte Liebelei zwischen Joe Black und Susan, die sich mit zusammenkniffenen Augen verkitschte Parolen ins Ohr wimmern und doch keinerlei echte Harmonie zueinander aufbauen. Das liegt zum Teil am schändlich eindimensionalen Drehbuch, welches seine für jeden Menschen elementare Thematik in geradezu lächerlicher Vehemenz vernachlässigt, wie auch an den Schauspielern, die hier zuweilen wirklich alles dafür geben, um unglaubwürdig in ihren Rollen zu versacken. Brad Pitt, eigentlich ein guter Mann, auch schon zu dieser Zeit, wird auf seinen Image als Frauenschwarm heruntergebrochen und stelzt sich mit seiner überfordert-affektierten Darbietung durch das verzogene Szenario, während sein weiblicher Gegenpart Claire Forlani, die schauspielerisch bekanntlich noch nie Bäume ausgerissen hat, immer nur mit verheulten Augen dreinblickt und unrunde Satzfetzen leise vor sich hin hauchen darf.


Die Lovestory zieht in ihrem Kitsch dicke Fäden und schaffte es sogar Kuschelrocker Bon Jovi zu neuen auditiven Foltermethoden zu inspirieren – Passt ja. Anthony Hopkins, sichtlich unterfordert, aber doch immer irgendwie charmant, kurbelt seine uninteressante Rolle lustlos herunter und sehnt sich, wie auch der Zuschauer nach spätestens der Hälfte des Films, dem Ende entgegen. In „Rendezvous mit Joe Black“ liegt so viel mehrwertiges Potenzial begraben, Martin Brest könnte soviel über das unabdingbare Schicksal und gesellschaftliche Sorgen erzählen, über die Existenz, das Sein und den Verlust dieser, vergisst sich dann doch nur im aufgesetzt-melodramatischen Schmalzgegockel. Bei manche Damen mit einem unfassbaren Empathievermögen wird das Ganze vielleicht für nasse Augen und der herausgeputzte Brad Pitt für feuchte Höschen sorgen, alle anderen rutschen schnell auf der Schleimspur aus und mühen sich krampfhaft, wieder auf die Beine zu kommen – Ohne Erfolg.


3 von 10 Löffeln mit Erdnussbutter


von souli

Review: DAS GROßE RENNEN VON BELLEVILLE – Bissige Kritik verpackt in irrwitzigem Zeichentrickstummfilm

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Fakten:
Das große Rennen von Belleville (Les Triplettes de Belleville)
Frankreich, Kanada, Belgien, Großbritannien. 2003. Buch und Regie: Sylvain Chomet. Mit (Sprecher): Béatrice Bonnifassi, Lina Boudreault, Michéle Caucheteux, Suzy Falk u.a. Länge: 78 Minuten. FSK: Ab 6 Jahren freigegeben. Auf DVD erhältlich.


Story:
Madame Souza lebt mit ihrem Enkel und einem kleinen Hund namens Bruno zusammen in einem Haus. Mit nichts hat der Kleine Freude, außer beim Fahrradfahren. Also macht sich seine Oma zur Aufgabe, ihn zu trainieren – mit Erfolg! Der Enkel macht Jahre später tatsächlich bei der Tour de France mit. Doch mitten während eines schwierigen Anstieges auf den Mont Ventoux wird ihr Enkel entführt. Aber die Entführer haben die Rechnung nicht mit der rüstigen alten Dame gemacht.




Meinung:
Es ist grau, dunkel, die Scheinwerfer sind auf einen roten Teppich gerichtet, auf dem ein paar schwergewichtige Damen stampfend und mit grimmigen Gesichtsausdrücken ihre Göttergatten hinwegschleifen. Schnitt, irgendeine Revue im Stil der zwanziger Jahre, drei Sängerinnen, die Triplettes, singen einen lässigen Song zu Swing-Tönen, die Band spielt mit Händen und Füßen. Eine schwarze Tänzerin tanzt nackt auf der Bühne, Affen prügeln sich, Schuhe mit Zähnen fressen den Moderator auf. Eine sehr skurrile Situation, die wir hier erleben. Skurril, merkwürdig, ein wenig abschreckend, aber er macht auch neugierig. Was hat das alles mit Radsport zu tun? Nichts! Gar nichts! Es war nur ein Film, aber mit diesen Eindrücken werden wir in die Handlung um Madame Souza und ihren Enkel Champion entlassen. In eine Geschichte, die eine sportliche Aufsteigergeschichte mit einem zum Ende hin actiongeladenen Kriminalfall verbindet und nicht mit Kritik und Humor geizt.


Der Wahnsinn der Tour de France - und des Leistungssports
Hier wird nun in überwiegend warmen Farben und mit einem sehr interessanten Stil ein Zeichentrickfilm aufgezogen, der Spannung, Komik und Tragik hervorragend vereint. Die Figuren sind so überzeichnet, wie man es selten gesehen hat. Aber das macht es ja gerade aus. Skurril und schrullig ist noch total untertrieben. Es kann für manche sicher einfach zu viel sein, aber gerade hier liegt ja die Stärke. Satire, die durch ihre extremste Überzeichnung so bissig ist, dass sie eigentlich alles und jeden treffen müsste. Verdammt lustig, bitterschwarz und ultrakritisch. Der Zeichenstil ist, wie bereits angedeutet, für einen Spielfilm sehr ungewöhnlich. Ein Stil, wie er sonst oft höchstens in Kurzfilmen zu finden ist. Teilweise wirkt der Film wie ein Aquarell, teilweise wie ein durch eine alte Farbfotographie in Zeichentrick. Er ist anders als die Zeichentrickfilme, die man sonst so kennt. Was ebenfalls eher Kurzfilmlike ist, das sind die Dialoge – die sind nämlich fast an einer Hand abzuzählen. Der Film wirkt vielmehr wie ein Stummfilm, der durch seine außerordentlich starke Bildsprache und die fantastische, sehr abwechslungsreiche Musik eine fesselnde Sogwirkung entfacht.


Auch die Ernährung war schon mal besser.
Dazu übt der Film, wie gesagt, Kritik. Kritik an der Leistungsgesellschaft, in der man immer intensiver und mit allen Mitteln zum Erfolg gedrängt wird. Welche Qual es für die Sportler sein kann, das ganze Leben nur dafür auszurichten. Hunger, Training, Schmerzen. Aber genauso, was die Familie alles Opfern muss. Auch sie kümmern sich nur um ihren Sprössling, in der Hoffnung, dass er irgendwann mal zum Champion wird, wie der Name des Jungen schon früh hoffen ließ. Und er stellt die wichtige Frage, wo im Leistungssport, in diesem Affenzirkus, der Mensch bleibt? Zwischen Konzernen und Erfolg zählt der nämlich nichts mehr, er ist eine Ware, mit der man machen kann, was man will. Mit dem Menschen wird gehandelt. Er wird so lange gefördert, wie er erfolgreich ist und wenn er seine Leistung nicht mehr bringen kann, dann wird er fallen gelassen, dann ist er egal und wird vergessen. Regisseur Sylvain Chomet zeigt dies am Beispiel der Tour de France, aber er könnte genauso gut den Fußball oder jede andere Profisportart hernehmen. Ach, nicht mal nur Sport, es gilt für alle Bereiche. Auch für die netten, singenden Damen vom Anfang. Was nicht mehr zieht, das lässt man links liegen.


Manche Bilder sprechen für sich...
Es ist aber nicht nur der Sport, er übt auch ganz generelle Gesellschaftskritik und lässt eigentlich nichts weg. Von welchem Land? Nun, natürlich in erster Linie Frankreich, auch die USA, aber eigentlich kann es hier für viele der „großen“ Nationen gelten. Es gibt unterwürfige Schleimer, großkotzige Machtmenschen, verrückte Außenseiter und viele mehr. Der Film versteht es, durch ihre übertriebene Darstellung die Idiotie ihres Verhaltens, egal was sie nun letztlich tun, zu entlarven. Er kritisiert die Luxusgesellschaft, er kritisiert die Ernährung, er kritisiert Ausbeutung und Zwang, er kritisiere (zwar sehr indirekt) die Unfähigkeit vieler Behörden. Er kritisiert nahezu alles und jeden und macht vor nichts Halt. Dennoch wirkt der Film niemals wie ein erhobener Zeigefinger, sondern ist sogar noch sehr unterhaltsam, was eben am eigenen Humor und an der tollen Musik liegt.


„Das große Rennen von Belleville“ ist ein enorm empfehlenswerter Film, nicht nur für Freunde von Zeichentrickfilmen. Natürlich sollte man sich auf alles gefasst machen, auf riesige Übertreibungen, auf grenzwertigen Humor, auch auf die ein oder andere nervige Szene. Aber als Gesamtkunstwerk ist der Film ein Hochgenuss, der irgendwo zwischen Surrealismus, Aquarell-Gemälde, Gesellschaftskritik, Musikfilm, Komödie, Thriller und einer sehr eigenen Familiengeschichte wandelt.


8,5 von 10 Bomben im Froschteich