Review: DAS GROßE RENNEN VON BELLEVILLE – Bissige Kritik verpackt in irrwitzigem Zeichentrickstummfilm



Fakten:
Das große Rennen von Belleville (Les Triplettes de Belleville)
Frankreich, Kanada, Belgien, Großbritannien. 2003. Buch und Regie: Sylvain Chomet. Mit (Sprecher): Béatrice Bonnifassi, Lina Boudreault, Michéle Caucheteux, Suzy Falk u.a. Länge: 78 Minuten. FSK: Ab 6 Jahren freigegeben. Auf DVD erhältlich.


Story:
Madame Souza lebt mit ihrem Enkel und einem kleinen Hund namens Bruno zusammen in einem Haus. Mit nichts hat der Kleine Freude, außer beim Fahrradfahren. Also macht sich seine Oma zur Aufgabe, ihn zu trainieren – mit Erfolg! Der Enkel macht Jahre später tatsächlich bei der Tour de France mit. Doch mitten während eines schwierigen Anstieges auf den Mont Ventoux wird ihr Enkel entführt. Aber die Entführer haben die Rechnung nicht mit der rüstigen alten Dame gemacht.




Meinung:
Es ist grau, dunkel, die Scheinwerfer sind auf einen roten Teppich gerichtet, auf dem ein paar schwergewichtige Damen stampfend und mit grimmigen Gesichtsausdrücken ihre Göttergatten hinwegschleifen. Schnitt, irgendeine Revue im Stil der zwanziger Jahre, drei Sängerinnen, die Triplettes, singen einen lässigen Song zu Swing-Tönen, die Band spielt mit Händen und Füßen. Eine schwarze Tänzerin tanzt nackt auf der Bühne, Affen prügeln sich, Schuhe mit Zähnen fressen den Moderator auf. Eine sehr skurrile Situation, die wir hier erleben. Skurril, merkwürdig, ein wenig abschreckend, aber er macht auch neugierig. Was hat das alles mit Radsport zu tun? Nichts! Gar nichts! Es war nur ein Film, aber mit diesen Eindrücken werden wir in die Handlung um Madame Souza und ihren Enkel Champion entlassen. In eine Geschichte, die eine sportliche Aufsteigergeschichte mit einem zum Ende hin actiongeladenen Kriminalfall verbindet und nicht mit Kritik und Humor geizt.


Der Wahnsinn der Tour de France - und des Leistungssports
Hier wird nun in überwiegend warmen Farben und mit einem sehr interessanten Stil ein Zeichentrickfilm aufgezogen, der Spannung, Komik und Tragik hervorragend vereint. Die Figuren sind so überzeichnet, wie man es selten gesehen hat. Aber das macht es ja gerade aus. Skurril und schrullig ist noch total untertrieben. Es kann für manche sicher einfach zu viel sein, aber gerade hier liegt ja die Stärke. Satire, die durch ihre extremste Überzeichnung so bissig ist, dass sie eigentlich alles und jeden treffen müsste. Verdammt lustig, bitterschwarz und ultrakritisch. Der Zeichenstil ist, wie bereits angedeutet, für einen Spielfilm sehr ungewöhnlich. Ein Stil, wie er sonst oft höchstens in Kurzfilmen zu finden ist. Teilweise wirkt der Film wie ein Aquarell, teilweise wie ein durch eine alte Farbfotographie in Zeichentrick. Er ist anders als die Zeichentrickfilme, die man sonst so kennt. Was ebenfalls eher Kurzfilmlike ist, das sind die Dialoge – die sind nämlich fast an einer Hand abzuzählen. Der Film wirkt vielmehr wie ein Stummfilm, der durch seine außerordentlich starke Bildsprache und die fantastische, sehr abwechslungsreiche Musik eine fesselnde Sogwirkung entfacht.


Auch die Ernährung war schon mal besser.
Dazu übt der Film, wie gesagt, Kritik. Kritik an der Leistungsgesellschaft, in der man immer intensiver und mit allen Mitteln zum Erfolg gedrängt wird. Welche Qual es für die Sportler sein kann, das ganze Leben nur dafür auszurichten. Hunger, Training, Schmerzen. Aber genauso, was die Familie alles Opfern muss. Auch sie kümmern sich nur um ihren Sprössling, in der Hoffnung, dass er irgendwann mal zum Champion wird, wie der Name des Jungen schon früh hoffen ließ. Und er stellt die wichtige Frage, wo im Leistungssport, in diesem Affenzirkus, der Mensch bleibt? Zwischen Konzernen und Erfolg zählt der nämlich nichts mehr, er ist eine Ware, mit der man machen kann, was man will. Mit dem Menschen wird gehandelt. Er wird so lange gefördert, wie er erfolgreich ist und wenn er seine Leistung nicht mehr bringen kann, dann wird er fallen gelassen, dann ist er egal und wird vergessen. Regisseur Sylvain Chomet zeigt dies am Beispiel der Tour de France, aber er könnte genauso gut den Fußball oder jede andere Profisportart hernehmen. Ach, nicht mal nur Sport, es gilt für alle Bereiche. Auch für die netten, singenden Damen vom Anfang. Was nicht mehr zieht, das lässt man links liegen.


Manche Bilder sprechen für sich...
Es ist aber nicht nur der Sport, er übt auch ganz generelle Gesellschaftskritik und lässt eigentlich nichts weg. Von welchem Land? Nun, natürlich in erster Linie Frankreich, auch die USA, aber eigentlich kann es hier für viele der „großen“ Nationen gelten. Es gibt unterwürfige Schleimer, großkotzige Machtmenschen, verrückte Außenseiter und viele mehr. Der Film versteht es, durch ihre übertriebene Darstellung die Idiotie ihres Verhaltens, egal was sie nun letztlich tun, zu entlarven. Er kritisiert die Luxusgesellschaft, er kritisiert die Ernährung, er kritisiert Ausbeutung und Zwang, er kritisiere (zwar sehr indirekt) die Unfähigkeit vieler Behörden. Er kritisiert nahezu alles und jeden und macht vor nichts Halt. Dennoch wirkt der Film niemals wie ein erhobener Zeigefinger, sondern ist sogar noch sehr unterhaltsam, was eben am eigenen Humor und an der tollen Musik liegt.


„Das große Rennen von Belleville“ ist ein enorm empfehlenswerter Film, nicht nur für Freunde von Zeichentrickfilmen. Natürlich sollte man sich auf alles gefasst machen, auf riesige Übertreibungen, auf grenzwertigen Humor, auch auf die ein oder andere nervige Szene. Aber als Gesamtkunstwerk ist der Film ein Hochgenuss, der irgendwo zwischen Surrealismus, Aquarell-Gemälde, Gesellschaftskritik, Musikfilm, Komödie, Thriller und einer sehr eigenen Familiengeschichte wandelt.


8,5 von 10 Bomben im Froschteich

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen