Review: DER ZWANG ZUM BÖSEN - Was ist schon gerecht?



Fakten:
Der Zwang zum Bösen (Compulsion)
USA, 1959. Regie: Richard Fleischer. Buch: Richard Murphy, Meyer Levin (Vorlage). Mit: Dean Stockwell, Bradford Dillman, Diane Varsi, Orson Welles, E.G. Marshall, Martin Milner, Richard Anderson, Robert Simon, Edward Binns, Louise Lorimer, Robert Burton u.a. Länge: 99 Minuten. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD erhältlich.


Story:
Chicago, 1924: Zwei hochintelligente Studenten aus gutem Hause ermorden einen kleinen Jungen. Ihr Motiv: Sie haben sich geschworen, in ihrem Leben Emotionen jeder Art zu erfahren und diese ganz sachlich zu betrachten. Eine verlorene Brille am Tatort bringt die Justiz auf ihre Fährte. Die Eltern engagieren den renomierten Strafverteidiger Jonathan Wilk, um die unvermeidlich scheinende Todesstrafe abzuwinden.



                                                                            


Meinung:
„Wissen sie, wie viel Schönheit im Bösen liegen kann?“

Trotz zahlreicher Auszeichnungen zu seiner Zeit scheint „Compulsion“ von Richard Fleischer heute stark in Vergessenheit geraten zu sein. Unberechtigt, fast schon sträflich. Es handelt sich nicht nur um einen klassischen Spannungsfilm der besten Sorte, er beeinhaltet wohl eine der beeindruckensten Gerichtsszenen der Filmgeschichte mit einer zeitlosen Aussage, wie sie sich treffsicherer kaum ausdrücken ließe.


Heute: Klingelstreich. Morgen: Falsch parken. Übermorgen: Mord.
Die auf einem wahren Fall beruhende Geschichte erinnert in groben Zügen an Alfred Hitchcocks Kammerspiel-Klassiker „Cocktail für eine Leiche“. Zwei junge Männer, hochintelligent und privilegiert, begehen ein grausames Verbrechen. Einen Mord an einem kleinen Jungen. Nicht etwa aus Habgier, Trieb oder sonst „gängigen“ Motiven. Sie halten sich für viel zu überlegen, als das man ihnen ernsthaft auf die Schliche kommen könnte. Während bei Hitchcock es den Tätern jedoch lediglich um das arogante Zurschaustellen ihres angeblich perfekten Verbrechen ging, geht es Judd (Dean Stockwell) und Arthur (Bradford Dillman) um etwas anderes. Sie wollen alles erdenkliche im Leben ausprobieren, losgelöst von Moral und menschlichen Emotionen wie Schuldgefühlen, Recht- und Unrechtbewustsein, was für sie lediglich eine Schwäche der „einfachen“ Menschen darstellt, auf die sie verächtlich herabblicken. Parallelen zu Hitchcock finden sich dann wieder in der Charakterisierung und „Rangordnung“. Arthur ist die treibende Kraft, das dominante Alphatier, Judd der devote Soldat, dessen starke Abhängigkeit zu seinem Freund schon in einer offen ausgesprochenen Befehls-Hierarchie angekommen ist.


Wer Teddys mag, kann kaum ein schlechter Mensch sein.
Die Einführung der Hauptcharaktere und die Darstellung ihres Denken und Handelns nimmt das erste Drittel des Films ein, das Whodunnit-Konzept wird nicht verfolgt, Tat und Täter sind von Beginn an klar. Dieses gelingt erschreckend greifbar, mag der Antrieb der Figuren noch so abgründig und unmenschlich sein. Stockwell und Dillman tragen dazu ihren Teil bei, spielen ihre Figuren in jedem Moment glaubhaft. Richtig spannend und ungemein intensiv wird er im zweiten Drittel, wenn die Justiz ins Spiel kommt. Die packenden Ermittlungs- und Verhörszenen bestechen durch ein perfekt durchkonzipiertes Skript, mit cleverem Aufbau und messerscharfen Wortduellen. Jetzt fühlt es sich schon fast wieder wie ein Kammerspiel an, mitreißendes Dialog-Kino ohne künstlichen Schmarn und Effekthascherein. Da steht „Compulsion“ den größten Werken dieser Kategorie in nichts nach. Den bekanntesten Star hat Fleischer da noch nicht mal präsentiert, denn das letzte Drittel gehört dem einzigartigen Orson Welles, die Präsenz auf zwei Beinen und dem Bulldoggengesicht.


Der Fall ist nicht vorbei, bevor der dicke Mann gesprochen hat.
Welles läutet in der Rolle des Anwalts Jonathan Wilk den Schlussakt ein, in dem „Compulsion“ zum reinrassigen Justizdrama wird. Mit seinem gewohnt wuchtigen Auftreten beherrscht er wie so oft das Geschehen, degradiert das starke Duo Stockwell/Dillmann zu Nebenfiguren und sorgt für die anfangs schon erwähnte Szene, die einfach sagenhaft ist. Sein Schlussplädoyer gegen die Todesstrafe erstickt jedes Gegenargument im Keim, ist so perfekt ausformuliert und vorgetragen, dass sich die Gänsehaut aller Beteiligten im Saal auf den Zuschauer selbst überträgt. Wenn man überlegt, dass dieser Film aus dem Jahr 1959 stammt, dennoch in dessen Entstehungsland heute noch Menschen hingerichtet werden, so paradox wie erschreckend. Das lässt sich auch nicht mit „humaneren“ Methoden rechtfertigen, denn Wilk trifft mit seiner flammenden Rede den Nagel auf den Kopf und sorgt für einen bleibenden Filmmoment.


„Compulsion“ ist intelligentes, klug entwickeltes Kino mit hervorragenden Darstellern, einem abwechslungsreichen Skript und einem interessanten wie nachdenklich stimmenden Ansatz. Selbst wenn die Täter als solche feststehen und ihr Verbrechen an Grausamkeit nicht zu überbieten ist, darf ein Rechtsstaat sich die Menschlichkeit nehmen lassen? Hier werden nicht – wie sonst in solchen Filmen – Unschuldige oder Menschen mit einer menschlich zumindest nachvollziehbaren Motivation (Selbstjustiz, Verzweiflung) versucht vor dem Galgen zu retten, sondern berechnende Monster. Aber macht das letzten Endes für die Sache einen Unterschied? Eine mutige, eine wichtige Frage, die sich jeder, besonders gewisse Justizsysteme, dringend stellen sollten.

8,5 von 10 verlorenen Brillen.

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