Review: THE WORLD OF KANAKO - Beißender Schmerz in Filmform



Fakten:
The World of Kanako (Kawaki)
J. 2014. Regie: Tetsuya Nakashima. Buch: Tetsuya Nakashima, Nobuhiro Monma, Miako Tadano, Akio Fukamachi (Vorlage). Mit: Koji Yakusho, Nana Komatsu, Satoshi Tsumabuki, Joe Odagiri, Fumi Nikaido, Ai Hasimoto, Jun Kunimura u.a. Länge: 118 Minuten.
FSK: keine Jugendfreigabe. Auf DVD und Blu-Ray im freien Handel erhältlich.


Story:
Der Ex-Polizist Akikazu soll sich, von seiner Ex-Frau beauftragt, auf die Suche nach deren gemeinsamer Tochter begeben, die seit ein paar Tagen verschwunden ist. Je weiter Akikazu in seinen Nachforschungen kommt, desto mehr wird ihm bewusst, dass seine Tochter gar nicht das liebe Mädchen ist, für das er sie immer gehalten hat.





Meinung:
Tetsuya Nakashima hat mit „The World of Kanako“ eines der Highlights des diesjährigen Fantasy Filmfests abgeliefert. Fünf Jahre hat die Filmwelt zuvor auf ein neues Werk des Japaners warten müssen, nachdem er mit „Geständnisse“ (2010) geschockt, geekelt und vor allem erschüttert hat. „Kawaki“, wie „Kanako“ im Original heißt, hat dabei schon mit ordentlich überraschender PR von sich reden gemacht. Der Regisseur Nakashima musste sich nämlich für die Gewaltdarstellung in seinem neuen Film entschuldigen, nachdem diese kritisiert wurde. Wer hätte gedacht, dass es im Filmland von Shion Sono Grenzen gibt, was Gewalt in Filmen betrifft? Der Verfasser dieser Kritik sicher nicht. Die Erwähnung von Shion Sono ist dabei gar nicht so Fehl am Platze, denn wer schon einmal Zeuge von dessen Filmkunst wurde, der wird sich bei der Sichtung von „Kanako“ sehr an dessen Arbeit erinnert fühlen.


Die Suche nach seiner Tochter wird kein Zuckerschlecken
Der Film öffnet mit einem Zitat. „Nur ein verwirrter Geist hält eine Epoche für verwirrt.“ Ein Satz, den man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen sollte, weil in diesen neun Worten mehr Wahrheit steckt als manch einer in seinen kompletten Film bekommt. Die Ruhe des eingeblendeten Satzes in weißer Schrift auf schwarzem Grund, man sollte sich nicht an sie gewöhnen. Ihr Schein trügt, denn Nakashima beginnt seinen Film hektisch und bremst ihn dann mit der Zeit immer weiter aus. Das Wunder und Zeugnis Nakashimas Kunst ist die Tatsache, dass der Film dramaturgisch nie nachlässt, den Zuschauer, obwohl er langsamer wird, immer fester in seinen Würgegriff bekommt und man als Publikum immer mehr gewillt ist, Schweiß, Tränen und Hirnzellen zu investieren. Die Hektik aber, sie beginnt komplett unvermittelt. Hektik, die nicht nur aus der schnellen und chaotischen Schnitttechnik herrührt, sondern auch aus den Gegensätzen, die der Regisseur hier stets anwendet. Es ist Heilig Abend, die Stimme eines Mädchens flüstert ein Liebesbekenntnis, ein Mann murrt seine Mordesabsichten. Ein Chor besingt in engelsgleichen Tönen das Weihnachtsfest, nackte Frauenfeinde tanzen im Club. Die Heilige Maria schaut liebevoll, mit in Demut gesenktem Haupte an sich herab, Jugendliche eskalieren auf einer Party, in einem Konfetti-Regen.


Sieht ganz nach einem Unentschieden aus
Acht Monate später (nur eine von vielen, vielen Zeitangaben, die Nakashima nutzt) sind drei Menschen tot. Ob als Folge auf das Gesehene oder ob die Geschehnisse gar nichts miteinander zu tun haben, weiß man nicht. Es ist nicht einfach, einen Sinn in die Montagen und Menge aus Schnitten zu bringen. Mehr noch, die Anstrengungen lohnen sich wahrscheinlich nicht, es wäre die bessere Wahl, sich aufmerksam zuzusehen, als schon zu versuchen, in der ersten halben Stunde, den Film verstehen und durchschauen zu können. Das wird nämlich nichts, was einerseits verwirren mag, aber andererseits einer Wohltat gleichkommt. Auftritt Akikazu, Kanakos Vater und Ex-Polizist. Ein Mann, der in jeder einzelnen Sekunde des Filmes schwitzt, der immer säuft, auf den Bürgersteig irgendeiner Straße kotzt, Leute anrempelt und sie dann anschreit. Akikazu ist ein Energiefeld, eine Bombe. Ein Mann, der Schläge austeilt, um seine Liebe zu bekunden, der eigentlich seine Familie wiedervereinen möchte und deshalb seine Frau windelweich prügelt. Die Gegensätze dominieren den Film für eine ganze Weile, sie sind quasi das einzige Maß in dieser Welt, die einzige Chance zur Orientierung. Der Zuschauer soll es sich gar nicht erst gemütlich machen oder eine Anschlussmöglichkeit finden, er soll den Boden unter den Füßen verlieren und keine Ahnung haben, an wen oder was im Film er sich klammern sollte, um wenigstens heile rauszukommen. Akikazu ist ein Wrack, der Zuschauer soll es werden.


Was gibt's da wohl zu tuscheln?
Um eben dies zu erreichen, bedient Regisseur Nakashima sich verschiedenen Stilistiken, von Comic-Look bis Grindhouse, von Thrill bis Teenie-Film. Der tiefsitzende Zynismus, der jedoch den ganzen Film überspannt, ungeachtet dessen, welches Subgenre er grade bedient, wird in all seiner Kraft deutlich, wenn Nakashima einmal mehr die Gegensätze aufeinanderprallen lässt. Er erzählt eine Szene des Films im Stile der Coming-of-Age-Filme, inklusive subjektivem Voice-Over, leichter Gitarrenmusik und einem Jungen, der in der Schule nicht beliebt ist, weshalb er sich vom Haus stürzt, auf den Boden klatscht und das Blut langsam von unten ins Bild geschossen kommt. Der Regisseur führt die übertrieben absurde inhaltliche Ebene aus „Geständnisse“ nun auf der visuellen Ebene ein und genau da lässt Shion Sono herzlich grüßen. Der fast schon klischee-durchtränkte Charakter des kaputten Polizisten, er wird hier verdreht, ins Absurde überhöht und letztendlich zum Bereich des schwer Verdaulichen gedrückt. Die gezeigten Existenzen sind nicht kaputt, sie sind so am Ende, dass sie mit blutigem Gesicht vorm Spiegel stehen und im Anblick ihrer Schäden Euphoriee empfinden. Menschen, die umgebracht werden wollen, Menschen, die andere für die gleiche Tat töten wollen, die sie begangen haben. Menschen, die anderen mit ihren Stiefeln in den offenen Gedärmen herumstochern. Manchmal fehlt da die Orientierung, keine Ahnung, wo Nakashima hin will. Zurück kommt man jedenfalls nicht.


„The World of Kanako“ von Tetsuya Nakashima ist ein bleischweres und heiß glühendes Vehikel von Film. Wahrscheinlich täte man gut daran, den Film als Komödie zu verstehen, als eine pechschwarze, kranke, ekelhafte, unmenschlich nihilistische Groteske zwar, aber als Komödie nichtsdestotrotz. Kann man sich damit von Beginn an arrangieren, gibt es wahrscheinlich nichts, was dem Film nicht gelingt, dann ist das Werk wahrscheinlich nicht zu toppen, quasi (einmal mehr im Gegensatz zu seinen Charakteren) unkaputtbar. Der Autor dieser Kritik hat diese Erkenntnis jedoch erst ab der Hälfte der Laufzeit bekommen und deshalb einen etwas schwierigeren Einstieg gehabt. Letzten Endes scheint es vollkommen überflüssig, nach tieferem Sinn zu forschen und nachzudenken, ob das hier ein Film über Liebe sein soll oder was zum Teufel hier eigentlich vor sich geht. Schließlich ist diese gedankliche Leere und Orientierungslosigkeit die Antwort selbst; die Aussage aus keiner Aussage. Die Antwort auf keine Frage. Der Widerspruch eben, der sich durch den ganzen Film zieht. Wer immer nur verletzt wird, braucht keine Gefühle. Zumindest in der Vermittlung dessen ist dieser Film meisterhaft.


8 von 10 schockierenden Entdeckungen


von Smooli

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