Review: DER FREIE WILLE - Die Grenzen des Seins




Fakten:
Der freie Wille
BRD. 2006. Regie: Matthias Glasner. Buch: Matthias Glasner, Jürgen Vogel, Judith Angerbauer. Mit: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Manfred Zapatka, André Hennicke, Judith Engel, Anna Brass, Maya Bothe, Anne-Kathrin Golinsky, Anna de Darlo, Frank Wickermann, Marcel Batangtaris, Andreas Laurenz Maier, Bernadette Büllmann u.a. Länge: 171 Minuten. Auf DVD erhältlich.


Story:
9 Jahre lang saß Theo wegen Vergewaltigung im Gefängnis, nun ist er wieder frei. Draußen muss er sich seiner Angst stellen, wieder rückfällig zu werden. Mit der psychisch angeschlagenen Nettie beginnt er eine Liebesbeziehung, die das Paar an die Grenzen der Belastbarkeit bringt.





Meinung:
Ein Vergewaltiger als Dreh- und Angelpunkt eines Filmes, der sich von der ersten bis zur letzten Minute vollkommen darüber im Klaren ist, dass jede Moralisierung nur ein stupider Rückgriff auf die eigene erzählerische Inkompetenz in der Freilegung von humanem Fehlverhalten ist? Das verlangt nicht nur menschliche Größe, sondern auch inszenatorische Weitsicht. Matthias Glasner ("Gnade") ist ein Regisseur, der über diese beiden Fähigkeiten verfügt. Viel zu gerne wird eine solch brisante Thematik in ihre ethischen Einzelteile zerpflückt, in dem psychosomatische Assoziationen dilettantisch wirken und pathologische Triebe immer einer Wertung unterliegen, die schlussendlich ins Nichts führt und dem Schuldigen dann die Strafe aufbrummt, die die ganze Welt einem solchen „Monster“ nur wünscht, denn Mitleid mit einem derartigen Unmenschen zu haben, ist beinahe genauso verwerflich, wie die vorherigen Taten dieser Person selbst.


"Der Freie Wille" ist ein Film der schmerzt
Matthias Glasner verzichtet in „Der freie Wille“ vollständig auf die engstirnigen Schwarz-Weiß-Kleistereien und hüllt die Geschichte um Theo (subtil, authentisch und hervorragend: Jürgen Vogel) in einen frostigen Mantel des zwischenmenschlichen Determinismus. Jeder Anklage der Verhaltensweisen der Figuren wird entflohen; der Zuschauer beobachtet und darf seine eigene Meinung bilden wie Entscheidungen treffen. Ein Ausbuchstabieren von Ursachen ist so überflüssig wie hinderlich. Daher wird auch deutlich, dass „Der freie Wille“ kein analysierendes Psychogramm sein möchte, er zieht den Zuschauer hingegen in die Welt eines kranken Mannes, der seinem Wunsch nach resozialisierter Freiheit zunehmend unterliegt und schlussendlich an die Grenzen des titelgebenden Willens stößt. Auch wenn das den Horizont des Gelegenheitszappers und Matthias Schweighöfer-Liebhabern übersteigt: Eine Hauptfigur muss nicht auf Biegen und Brechen auf sympathisch getrimmt sein, viel wichtiger ist, dass ihre Charakterzeichnung authentisch wirkt.


Daher erscheint „Der freie Wille“ mal wie ein intimes, zärtliches Flüstern, das leise Hoffnungen auf ein Leben in Normalität weckt, um doch im nächsten Moment wieder wie ein zügellos-intensiver Aufschrei zu explodieren. Matthias Glasner hat ohne Frage schwere Filmkost geschaffen, die in ihrer Aufmachung keinesfalls massenkompatibel daherkommt, doch der aufgeschlossene Zuschauer wird dem Martyrium von Theo und Nettie (Ebenfalls fantastisch: Sabine Timoteo) gebannt folgen, egal welche Präsenz der psychischen und physischen Misshandlung zugesprochen wird. Es steht nicht in Glasners Sinn, die große Kontroverse zu entfachen und seine leidenden Charaktere mit aller Kraft bis auf den Boden der Tatsachen auszuschlachten. Hier wird bewiesen, wie man sich einem solch schweren Thema annehmen kann und wie man den Fokus konsequent auf den Menschen selbst richtet, nicht auf die verankerten Motive seines Verhaltens. Anspruchsvolles und verdammt ehrliches Kino.


8 von 10 Übergriffen in den Dünen


von souli

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