Review: BLUE VELVET – David Lynch fickt die Kleinstadtidylle



Fakten:
Blue Velvet
USA. 1986. Regie und Buch: David Lynch. Mit: Kyle MacLachlan, Laura Dern, Isabella Rossellini, Dennis Hopper, Hope Lange, Dean Stockwell, George Dickerson, u.a. Länge: 116 Minuten. FSK: ab 16 Jahren freigegeben. Auf DVD und Blu-Ray erhältlich.


Story:
Weil sein Vater einen Schlaganfall erlitten hatte, kehrt der junge Jeffrey in seinen Heimatort Lumberton zurück, um sich um die Familie und die Geschäft zu kümmern. Als er dort aber auf einer Wiese ein abgeschnittenes Ohr findet, ist seine Neugier geweckt. Er recherchiert und stößt so auf die Nachtclubsängerin Dorothy, deren Mann und Kind vom Psychopathen und Vergewaltiger Frank Booth entführt wurden. Jeffrey will Dorothy helfen, doch dabei gerät er selbst in einen Strudel aus Sex und Gewalt, der ihn anwidert und merkwürdig fasziniert zugleich.




Meinung:
David Lynch ist als Meister des surrealen Filmes bekannt. Und oft versteht man nach dem „Genuss“ eines Lynch-Filmes angeblich noch weniger als zuvor. Doch bei „Blue Velvet“ scheint es anders zu sein. Ziemlich geradlinig erzählt, keine großen Experimente mit Sound oder sonstigen Dingen. Ein Gegensatz zu vielen anderen seiner Filme. Sicherlich hat er dies bewusst gemacht, denn auch in dem Film selbst tummeln sich zahlreiche Gegensätze. Antithesen, die gleichzeitig oder in sehr kurzen zeitlichen Abständen auftreten und sich besonders deutlich widersprechen.

 
Frank treibt ein perfides Spiel mit Dorothy...
Einerseits ist da die idyllische Kleinstadt Lumberton, die aber nicht die typischen Kleinstadtklischees aufweist, sondern in der vielmehr dieselbe Anonymität vorherrscht wie in vielen Großstädten, in denen sich niemand kennt und die, typisch für einen film noir wie diesen hier, irgendwann zum alles verschlingenden Ungetüm werden. Lynch nimmt also diese scheinbare Idylle Lumbertons und taucht unter die Oberfläche hinab. Er schaut in den inneren Kern der Kleinstadt und seiner Bürger, hier am Beispiel des jungen Jeffreys. Er ist das Bindeglied zwischen verschiedenen Erzählsträngen und durch ihn werden Kriminalstory, Liebesgeschichte und der Trip in die Abgründe der menschlichen Psyche am Ende auch zusammengeführt. Dabei muss aber erwähnt werden, dass nicht alle Geschichten gleich gelungen sind und somit doch ein Ungleichgewicht entsteht, was den Film zumindest kurzzeitig immer wieder recht zäh erscheinen lässt. Besonders die Liebesgeschichte zwischen Jeffrey und Sandy will so gar nicht zu den anderen beiden düsteren Storylines passen.



Aber auch das kann als einer dieser Gegensätze angesehen werden. Gegensätze, wie sie ebenfalls bei den Figuren zu entdecken sind. Getragen wird der Film von den eindringlichen Leistungen Isabella Rossellinis und besonders Dennis Hoppers als sadistischer Scheißkerl Frank Booth. Während Rossellini den Spagat zwischen ausgenutzter Mutter und Masochistin, die sich nach Liebe und Sex sehnt, eindrucksvoll meistert und von jetzt auf gleich von elender Verzweiflung zu erotischer Lust wechselt, spielt Hopper den durchgeknallten, sadistischen und „fuck“ schreienden Frank Booth so nachhaltig, dass seine Figur noch heute als eine der bösartigsten Figuren der Filmgeschichte gilt. Hopper lässt sich so sehr in diesen Frank fallen, dass man nicht glauben mag, dass das nur gespielt ist. Fantastisch. So dominant Rossellini und Hopper spielen, so unbeholfen und naiv wirken Kyle MacLachlan und Laura Dern. Allerdings ist das nicht negativ gemeint, denn besonders bei MacLachlan passt dieses Image des naiven jungen Mannes mit seinen heimlichen Sehnsüchten und Neigungen außerordentlich gut. Nur Dern kuckt immer ein bisschen doof aus der Wäsche, auch dann, wenn es nicht erforderlich ist. Beide sind solide, aber nicht mehr.


... und Jeffrey ist dort mittenrein geraten.
Und immer wieder dieses Lied. „Blue Velvet“. So harmlos, so sanft, so schön. Es vermittelt eine Wärme, die aber durch die erzählte Geschichte und durch die bedrohliche, verstörende Grundstimmung des Films karikiert wird. Wieder ein Gegensatz. Immer wieder scheint der Film auch zur Ruhe zu kommen, wofür die Momente zwischen Jeffrey und Sandy stehen. Dann befindet sich der Film wieder im ruhigen beschaulichen Lumberton. Doch sobald wir mit Jeffrey und einer geradezu voyeuristischen Kamera wieder zu Dorothy oder Frank wandern, dann ist sie da – eine fast schon zügellose und fanatische Ekstase. Erotik, Gewalt und Sex im Einklang und wir stehen gebannt dabei und können nicht entfliehen, selbst wenn wir es wollten. Sinnlichkeit, Perversionen und Folter liegen hier so nahe beieinander, dass man nicht mehr so richtig unterscheiden kann, was wir nun gerade sehen. Lynch zeigt hinter den Vorhängen der Kleinstadt eine Welt aus ödipaler Lust und großen Gefahren. Und das alles zeigt er, ohne es groß zu verklausulieren.


Lynch erzählt eine Geschichte, die zwar mehrere Erzählstränge aufweist, aber klar auf ein Ziel zuläuft und am Ende auch völlig in sich schlüssig ist. Ohne fehlende Abschnitte, ohne große Interpretationsmöglichkeiten und ohne zu verkopft und surreal zu sein. Und doch scheint es mir, als hätte ich so einen Film von einem anderen Regisseur noch nicht gesehen. Lynch hat mit „Blue Velvet“ einen hervorragenden film noir geschaffen, einen im eigentlichen Sinne packenden Film. Und trotz seiner eigentlich ruhigen Art nimmt er mich als Zuschauer in extremster Weise mit. Ein Film, der als Einstiegswerk für eine Beschäftigung mit David Lynch wohl sehr gut geeignet scheint. Weil er nicht wie ein typischer Lynch-Film daherkommt. Und doch einer ist.


8,5 von 10 fucking fucks

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen