JP. 2008. Buch und Regie: Sono Sion. Mit: Takahiro
Nishijima, Hikari Mitsushima, Sakura Ando, Makiko Watanabe, Atsuro Watabe,
Hiroyuki Onoue, Yutaka Shimizu, Tasuku Nagaoka, ua. Länge: 237 Minuten. FSK:
freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD und Blu-Ray erhältlich.
Story:
Yu, Koike und Yoko sind drei Teenager, die emotional
geschädigt sind und deren Schicksale sich verbinden. Yu liebt Yoko, Yoko hält
Yu für eine Frau und Koike wartet auf den richtigen Moment, um Yu zu zerstören
und Yoko für sich zu gewinnen.
Meinung:
Film-Professoren, ja eigentlich jeder Mensch, der
anderen Menschen die Regeln und Künste des Films lehren möchte, dürfte
mit einem lachenden und einem weinenden Auge den Kopf schütteln, wenn er sich
den Auftakt von Sono Sions Hass-Triloge anschaut. Der erste Plot-Point, mit dem
der Film vom ersten in den zweiten Akt voranschreitet, kommt hier nach 60
Minuten. Davor und danach gibt es eine wechselnde Stimme aus dem Off,
Zeit-Sprünge als wäre es die einzig richtige Methode, um einen szenischen
Aufbau zu konstruieren. Sono macht wieder einmal was er will - und das vier
Stunden lang. Ein Film über Religion, Familie, Hass, Liebe und Perversion.
"Ich liebe dich" auf japanisch
In fünf Kapitel erzählt Sono mehrere Geschichten, die sich alle auf das
Ereignis an der 60-Minuten-Marke, welche im Film schlicht „das Wunder“ genannt
wird, hinbewegen oder von ihr ausstreuen. Im ersten Kapitel, das dem
Protagonisten Yu gewidmet ist, ist die Liebe ein zwangsweise enttäuschendes
Konstrukt, weil ihre bedingungslose Erfüllung unmöglich erscheint. Yu handelt
aus Liebe für einen toten Menschen oder einem ihm verschlossenen. Sein Vater
handelt aus Liebe zu Gott, einer Liebe die man (als Nichtgläubiger) als äußerst
einseitig beschreiben kann und eine weitere Frau, ist in Yus Vater verliebt;
ein Mann, der sich Gott versprochen hat und damit unfähig ist, Liebe zu
erwidern. Denkt man an die Liebe, ist die erste Assoziation (hoffentlich) stets
positiver Natur. Dennoch kann sie aus einem sanften Menschen einen brutalen
machen und aus einem Optimisten einen Zynisten. Und vor allem bringt sie dazu,
sich selbst zu vergessen. Es ist Yu unmöglich, die Liebe seines Pfarrer-Vaters
zu erreichen, ohne anständig beichten zu können. Also fängt er an zu sündigen.
Er begeht Sünden der Vergebung wegen. Es ist eines der deutlichsten Motive, das
in Sonos Gedankenwelt führt, aufzeigt, wie absurd Liebe und Glauben sein kann.
Und dennoch wird auch deutlich, wie dringend der Mensch beides braucht.
Von wegen "jeder nur ein Kreuz"
Durch die Liebe und das Begehen der Sünden begibt Yu sich auf einen Pfad der
Selbstzerstörung. Das Geben von Liebe ist in seinem Fall gleichbedeutend mit
dem Geben seiner Identität, er muss das ultimative Opfer bringen und sich
selbst aufgeben. Welcher halbwegs normale Mensch würde sich selbst zerstören?
Die Liebe macht’s möglich. Und das wirkt im Film zwar alles fies, aber nicht
unverständlich. Man wünscht Yu, dass er die Aufmerksamkeit von seinem Vater
bekommt und nimmt deshalb auch seine Sünden in Kauf. Seine Sünde besteht darin,
dass er unter Röcke von Frauen fotografiert. Und in Japan scheint jede Frau
Röcke zu tragen, es ist wahrlich überwältigend. Yu begeht diese Sünde nicht aus
Lust, sonder nur des Prinzips der Sünde wegen. Eben damit er etwas zum Beichten
hat, weil sein Vater mit Beichten à la „Ich habe Ameisen getötet“ nicht
zufrieden war. Mit einem Mal wird Yu als Perverser gebrandmarkt, von Leuten,
die Inzest erlebt haben, mit einer Schere erigierte Penisse abgeschnitten
haben, Stalker und Sekten-Gründer sind und wahllos und zum Spaß Männer
krankenhausreif prügelten. Aber nein, Yu ist der Perverse, von dem sich jeder
angewidert entfernt. Sie sehen nur noch den Perversen in ihm und verpassen
dabei, dass er sich seiner wahren Lust (die Attraktion zu Yoko) schämt.
Bullet Time a la Sion Sono
Im Leben von Koike, einer jungen Dame, die anfangs stets eine beobachtende
Rolle hat und erst später nach dem Wunder wirklich eingreift, hat die Liebe
keine wirkliche Bedeutung. Sie wird von ihrem Vater physisch misshandelt,
geschlagen und getreten und ihr wird von ihm stets das Tragen einer „Erbsünde“
vorgehalten. Sono zeigt ein Bild einer Familie, in der Liebe nicht
vorausgesetzt ist, keine Verpflichtung. Man muss seine Eltern nicht lieben, nur
weil sie die Eltern sind. Die Eltern sind kein Tabu-Gebiet, das man, wie Gott,
nicht hinterfragen darf. Denn für Kinder haben die Eltern eine gottgleiche
Stellung. Eine Stellung, die dem Menschen bewusst ist und zu viel für ihn ist,
weil er dazu neigt, sie auszunutzen. Womit er sich von Gott unterscheidet. Es
geht in Koikes Kindheit nicht darum, die Liebe ihres Vaters zu bekommen (der
Zug ist abgefahren), sondern es geht um die Befreiung von der von uns Menschen
eingebildeten übergeordneten Gewalt, der wir uns freiwillig unterordnen, weil
wir uns emotionale und körperliche Sicherheit ausmalen, wenn wir es tun.
Beten für die Liebe
Yoko allerdings tut das nicht. Sie rebelliert, sie bricht aus dieser
Gedankenwelt aus und dreht frei durch. Sie wurde von ihrem Vater sexuell
begehrt und genötigt und ist seitdem in einer Welt, in der Männer der Feind
sind, in der Liebe weit entfernt ist, in der sie keine Pflicht, ihr Fehlen aber
ein großer Faktor ist. Yoko lebt auf einem Pfad der verwirrten Rebellion. Sie
hasst alle Männer aus Prinzip außer Kurt Cobain. Ein Feminist, ein Mann, der
keine Angst hatte, eine emotionale Verzweiflung und Depression der kaputten
Welt gegenüber auszudrücken. Yoko zerstört aus Lust und Laune das Leben anderer
Familien, beruflich rein metaphorisch, wenn sie die Häuser und Wohnungen von
anderen Menschen zerlegen darf und es dabei vor allem auf die Fotografien
abgesehen hat. In ihrer Freizeit allerdings tut sie es nicht metaphorisch, wenn
sie umherstreift und wahllos andere Männer verprügelt. Yoko ist, wie Sono in
seinen avantgardistischen Einwürfen dargestellt, ein Querschläger einer
Pistole, der unkontrolliert, ziellos, aber deshalb nur noch gefährlicher
zerstörerisch umherfliegt. Diese drei Jugendliche werden hier in eine
Dreiecksbeziehung aus Lügen, Liebe, Sucht und Angst gezogen, in der sie sich
vom unsicheren Dunkel an das Licht tasten wollen. Liebe, Familie, Religion.
Eines bedingt das andere, nichts wäre ohne die anderen Komponenten vollkommen.
Die Liebe ist eine moralische Perversion, eine Religion, sie ist ein
gedankliches Konstrukt, dass über und zwischen uns zu schweben scheint. Sie
hört niemals auf.
Man mag hellhörig werden, wenn man die ernsthafte Behauptung liest, dass ein
vierstündiger Film verdammt kurzweilig ist. Doch es ist eine Tatsache. „Love
Exposure“ ist ein Film voller Gegensätzlichkeiten. In ihm wechseln sich ruhige
und laute Momente ab, Gewalt und Zärtlichkeit, Liebe und Abscheu, Klassik und
Moderne, richtig und falsch. All das wird im Sono-typischen
chaotisch-anmutenden Stil-Mix aus Drama, kindischem Humor und deftigstem
Splatter, mit hektischen Kamerazooms, assoziativen Einwürfen, Bildern von
dunkelster Unmenschlichkeit und beeindruckender Poesie so elegant verbunden,
dass die vier Stunden unfassbar kompakt, schnell und unterhaltsam ohne
Durststrecke auskommen. Sucht man eine filmische Herausforderung, wird man hier
fündig. Sucht man etwas für das Herz und das Hirn, wird man hier fündig. Sucht man
einen einzigartigen Filmkünstler, man halte Augen und Ohren offen für Sono
Sion.
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