2010. KR. Buch und Regie: Chang-dong Lee. Mit: Yoon
Jeong-hee, Lee David, Kim Hee-ra, Ahn Nae-sang, Kim Yong-taek, Park Myeong-sin,
Min Bok-gi, Kim Hye-jng u.a. Länge: 135 Minuten. FSK: unbekannt. Auf DVD
erhältlich (Import).
Story:
Die Ü60erin Yong beschließt, einen Dichtkurs zu
besuchen, um sich einen Kindheitstraum zu erfüllen. Nebenbei geht sie noch
ihrem Beruf als Pflegerin nach und muss mit ihrem Enkel klarkommen, der sich
immer wieder in kleinere und dann in riesige Schwierigkeiten bringt.
Meinung: Das südkoreanische Kino steht seit den 1990er Jahren voll und ganz in
seinem Saft des Lebens und darf durchaus regelmäßig mit seinen Produktionen die
Preise von verschiedenen A-Filmfestivals der ganzen Welt einheimsen. Am
international bekanntesten wird wohl die Rache-Trilogie von Chan-wook Park
sein, die damals die Goldene Palme in Cannes für sich verbuchen konnte und
generell ist es durchaus auffällig, wie sehr sich südkoreanische Filme mit
Gewalt und Rache beschäftigen. Bei diesem Werk von Chang-dong Lee, dessen Film
„Secret Sunshine“ 2007 seine Premiere in Cannes feiern konnte, glänzen jedoch
beide der genannten Thematiken einzig durch ihre Abwesenheit.
Ist leider ein paar Mal sitzengeblieben
Worum es in diesem Film nicht geht, ist dabei relativ einfach zu erkennen und
aufzuzählen, worum es tatsächlich geht, ist nicht ganz so leicht zu nennen. Das
liegt keinesfalls an irgendwelchen Fehlern, die der Film begeht, sondern daran,
dass er in seiner Natur so unheimlich fein, subtil und natürlich ist, dass die
Thematiken sehr breit gefächert und schwierig auf einige wenige
herunterzubrechen sind. Es ist beinahe augenscheinlich so, als hätte der Film
mehrere Schichten, in denen man sich je nach Lust und Laune verlieren kann und
die man erforschen kann. Ganz am Anfang scheint es ein Film über die
Vergänglichkeit zu sein, wenn die Protagonistin Yong zu einem Arzt geht und ihr
quasi gesagt wird, dass sie an Alzheimer leide. Eine Krankheit, die wohl das
stärkste Symbol für die Endlichkeit des Lebens und der menschlichen Macht über
die Natur darstellt. Langsam schwinden grundlegende Erinnerungen an vertraute
Menschen, Wörter, Gegenstände und Tätigkeiten. Aber anstatt sich von da an zu
einem Film über eine schwere Krankheit mit einem zwanghaften Ausgang zu
entwickeln, geht Lee einen anderen Weg und schmeißt den Zuschauer, wenn er zu
wissen denkt, was als nächstes passiert ohne Vorwarnung in eine der passiv
emotionalsten Momente der jüngeren Filmgeschichte. Eine Mutter weint um ihr
verstorbenes Kind und taumelt benebelt auf der Straße herum und ruft nach ihm.
Frau Yong und das Publikum können nur hilflos zusehen.
"...and I said maybe..."
Der Film kehrt sich alsdann von der Diagnose ab - vergisst sie jedoch nicht -
und erzählt anschließend die Geschichte von Yong, über ihre Sorgen, Gefühle und
Gedanken. Eine Frau, die wenig Zukunft und bald keine Vergangenheit mehr hat
(denn was nützt schon eine Vergangenheit ohne Erinnerungen?) und deren
Vermächtnis ihr Enkel ist, um den sie sich kümmert und der jegliche moralischen
und ethischen Werte zu missen scheint. Yong selbst arbeitet als Pflegerin, sie
hilft Menschen, die die einfachsten Dinge nicht mehr verrichten können und
sorgt dafür, dass sie nicht das letzte Bisschen Würde verlieren. Ihr Enkel
hingegen nimmt sich selbst und seinen Mitmenschen dieses Stück mit seiner
Faulheit, Vulgarität und der fehlenden Empathie. Vor allem Letzteres scheint
etwas zu sein, was Yong ärgert. Sie kümmert sich nicht darum, dass er scheinbar
kein Stück dankbar zu sein scheint, dass er sie nutzt, solange es ihm schmeckt
und sie dann fallen lässt. Yong ist das nicht allzu wichtig, bis er sich etwas
so Großes zu Schulden kommen lässt, dass es auch ihr Leben beeinflusst und ihre
Ehre und ihr Ansehen verändert.
Auch die Generation 60+ entdeckt Apple für sich
Yong beschließt, an einem Poesie-Kurs teilzunehmen, dessen Ziel es ist, dass
jeder der Beteiligten am Ende des Kurses ein Gedicht verfasst hat. Yong will
quasi ihre Gedanken verewigen, was etwas ist, was ihre Krankheit verhindern
würde. In der Szene, in der sie sich bei dem Kurs anmeldet, wird ein weiteres
Mal der Generationskonflikt der Bevölkerung gezeigt. In nahezu allen Szenen mit
Yong und ihrem Sohn wird der Konflikt zwar in den Dialogen deutlich, aber hier
schafft Lee eben dies ohne Worte, nur mit Bildern. Yong betritt den Raum, in
dem sie fortan von dem Dichter Kim Yong-taek lernen will und im Hintergrund
sieht man jüngere Menschen, wie sie in einer Gruppe einen Hip-Hop-Tanz
einstudieren. Es sind solche Momente, die Lee nutzt, um ein Bild der offenen
Kluft zu zeichnen. Eine Kluft, die deutlich ist, aber im direkten Kontakt von
beiden Parteien ignoriert wird. Und dennoch wird sich letzten Endes wohl eher
Yong der zeitlichen Veränderung bewusst als ihr Enkel. Sie nämlich ist eine
konservative Frau, die als erste Übung Inspiration in einem Apfel sucht und all
die Schreib-Gedanken wieder über Bord wirft. Äpfel seien schließlich zum Essen
da.
Das Leben noch einmal so genießen wie man es selbst für richtig hält
Nachdem die Inspiration von dem Apfel nicht so recht kommen mag, sucht Yong als
Impuls die Inspiration in dem Schönen. Sie beobachtet einen Baum, dem Sinnbild
für das Leben und wird von einer weiteren älteren Dame gefragt, was sie denn
mache. Nach der Antwort entfernt die Frau sich, als gehöre Yong in eine
geschlossene Anstalt. Diese zwanghafte Inspiration ist etwas, was ihr Lehrer
fordert, er sagt, man müsse die Inspiration anflehen und dann kommt sie zu
einem. Doch Yong hat dafür später gar keinen Kopf mehr. Sie findet nämlich die
Inspiration, jedoch nicht zwanghaft und nicht im Schönen, sondern in dem
Dunklen, dem Tod und der Hässlichkeit des Menschen. Sie findet die Inspiration
und nutzt düstere Erlebnisse, um eine Brücke zwischen Leben und Tod zu
schlagen, Würde an Orten zu verleihen, in denen sie nicht existiert. Das Schöne
und das Schlechte sind stets miteinander verbunden und auch das Schlechte kann
unheimlich schön sein. Im Dicht-Kurs sollen ihre Kollegen von guten Erlebnissen
berichten - sie alle weinen am Ende, weil die schönen Erinnerungen gebunden
sind an den Verlust der eigenen Mutter oder die Schmerzen der Geburt. Yong
findet jedoch die Inspiration in der Schande, der Schuld. In dem Bereich, in
den sie unwillentlich gerissen wurde - und damit lässt sie Kluft zwischen den
Generationen vergessen wirken.
Chang-dong Lee ist mit „Poetry“ ein unheimlich feinfühliges und wahnsinnig
breit gefächertes Drama gelungen. Lebensnah, gefühlvoll und gleichzeitig so
nüchternes Kino sieht man nicht alle Tage und vor allem nicht aus Hollywood -
da muss man schon den Blick gen Osten wenden. Zurecht, möchte man sagen, hat
der Film in Cannes den Preis für das beste Drehbuch gewonnen - ein Preis, den
Quentin Tarantino als Fuck-You-Award abtun mag, den Lee sich aber redlich
verdient hat, mit seiner mitreißenden und heimeligen Geschichte über das Leben,
das Alter, den Tod, die Familie, über Lebensweisen, Enttäuschung, Liebe,
Verlust und vor allem Empathie.
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