Review: RAW - Meine Schwester schmeckt nach Curry



                                                                           
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Fakten:
Raw (Grave)
FR, B, 2016. Regie & Buch: Julia Ducournau. Mit: Garance Marillier, Ella Rumpf, Rabah Nait Oufella, Laurent Lucas, Joana Preiss, Bouli Lanners, Marion Vernoux u.a. Länge: 98 Minuten. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
Justine bestreitet – ganz im Sinne der Familientradition – den anerzogenen Weg, sowohl als strenge Vegetarierin wie als angehende Tierärztin. An der Uni führt ein Aufnahmeritual in der Verbindung ihrer älteren Schwester zu einer ungeahnten Gier. Der nach Blut und Fleisch!

                                                                  
Meinung:
Mahlzeit. So sichert man sich gleich bei seinem Spielfilmdebüt einen Platz am hoffnungsvollen Tisch des internationalen Genrekinos, ohne direkt auf den Erfolgszug der (auch nicht mehr so) neuen und inzwischen schon längst abgeschwächten, französischen Härtewelle aufzuspringen, was man bei einem Titel wie Raw im ersten Moment eventuell annehmen könnte. Zum Teil über ein Jahrzehnt nach dem radikalen Aufbäumen von Filmen wie High Tension, Martyrs oder Frontier(s), die das europäische und speziell französische Horrorkino mit ungeahnter Schonungslosigkeit zur Marke machte, kommt nun mit Raw ein vermeidlicher Schweinepriester, der die Dinge aber wohl überlegt und angenehm dezent angehen lässt. Nicht als moderner Mondo-Wüterich der Blutgeilheit erliegt, sondern eine verspätete Comig-of-Age-Geschichte anhand eines noch nicht gepflückten Mauerblümchens erzählt, das die die lange unterdrückte Fleischeslust nun in alle möglichen Richtungen exzessiv ausleben darf. Zwischen den Schenkeln, wie den Zähnen. Junges Blut. Hauptsache noch warm.


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Blut steht ihr gut
Du bist, was du hoffentlich nicht isst, nämlich ein menschliches Individuum. Kein Produkt des Elternhauses. Kein kleines Mädchen. Nicht nur der Frischling an der Tiermediziner-Uni, der wie das letzte Schlachtvieh gedemütigt und  - wie einst das große Schwester-Vorbild – zum unpädagogischen Hauruck-Crashkurs genötigt wird, mit ungeahnten Folgen. Abkapselung vom elterlichen Schutz-Kokon, die Entdeckung der (anfangs) merkwürdig-enthaltsamen, vergessenen Sexualität und nun kommt auch noch rohes Fleisch ins Spiel. Justine (hervorragend: Garance Marillier) hat Blut geleckt, entjungfert die Frau in sich, findet ihre eigene Natur und wird angelernt in der hohen Kunst der modernen Jagd, deren Erfolgsquote besonders davon zehrt, das das Praktizierte zu unvorstellbar erscheint, um ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Davon lebt auch Raw. In seinem Wesen kein schlichtes Genre-Futter, stattdessen eine Allegorie auf erzwungene, traditionelle, nie selbst definierte Wertevorstellungen und Erwartungshaltungen. Die komplette Eskalation von plötzlich gewonnener Freiheit und dem Umgang damit. Denn ob nun diese oder jene Fleischeslust, Raw beschreibt in erster Linie, wie etwas Peverses, Verdorbenes plötzlich genussvoll und immer allgegenwärtig ist. Wie man die verbotene Frucht genießen möchte, aber den „gesunden“ Umgang in Anbetracht der unendlichen Möglichkeiten natürlich nie trainieren konnte.


Kannibalismus, Sexualität, Suchtverhalten, (überfällige) Adoleszenz, Autonomie: Raw schildert geschickt und hintergründig einen Abnabelungsprozess auf sehr radikale Art und Weise, inklusive einer wahrhaftigen Stutenbeißerei und einer dem Genre vielleicht zu sehr zugeneigten Pointe, die zwar ein kleines Grinsen verursacht, der Meta-Ebene dieses (sonst) NICHT-Horror-Films aber nicht unbedingt förderlich ist. Gibt aber schlimmere Kritikpunkte. Und Filme wie Raw könnten davon sogar mehr vertragen. Sehr sehenswert.

7 von 10 eingeschläferten Schoßhunden

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