Fakten: Das Märchen der Märchen
(Il racconto dei racconti)
IT/F/UK. 2015. Regie: Matteo Garonne. Buch: Edoardo Albinati, Ugo Chiti,
Massimo Gaudioso, Mattero Garrone, Giambattista Basile (Vorlage). Mit: Salma
Hayek, Vincent Cassel, Toby Jones, John C. Reilly, Massimo Ceccherini, Stacy
Martin, Shirley Henderson, Bebe und Jessie Cave u.a. Länge: 128 Minuten. FSK:
freigegeben ab 12 Jahren. Ab dem 14. Januar 2016 auf DVD und Blu-Ray
erhältlich.
Story: In drei Geschichten erzählt der Film vom Hochmut vor dem Fall. Salma Hayek
möchte unbedingt ein Kind, Vincent Cassel möchte nichts mit hässlichen Frauen
zu tun haben und Toby Jones möchte seiner Tochter einen netten Ehemann finden.
Meinung: Filme, die mehrere
separate und unabhängige Episoden erzählen, stoßen immer wieder auf die
gleichen Probleme. Erstens darf der qualitative Unterschied der einzelnen
Stränge nicht zu groß ausfallen - sonst leidet das Gesamtbild, wie zum Beispiel
bei „German Angst“. Zweitens sollten die verschiedenen Geschichten nicht zu
unterschiedlich sein, sondern zumindest in ihrem Kern eine ähnliche Lehre haben
und sich so miteinander ergänzen. Und drittens sollten die verschiedenen
Geschichten - paradoxerweise - nicht zu ähnlich sein, sonst ergänzt sich da gar
nichts, dann entstehen bloß redundante Minuten, die man hätte wertvoll nutzen
können. All das merkt der Zuschauer, sei es nur unterbewusst, wenn sich am Ende
nicht das gesättigte Gefühl einstellt, das ein „runder“ Film nach sich zieht.
Märchenhafter Einrichtungsgeschmack
Matteo Garonne („Gomorrha“) verbindet in „Das Märchen der Märchen“ drei
bekannte Geschichten in drei Handlungssträngen miteinander. Sie alle handeln
von den großen Themen des Dramas. Von Sehnsucht, Gier, Neid, dem (sündigen)
Verlangen nach mehr, der Ignoranz, dem Hochmut. In der ersten Geschichte sehnt
sich die Königin von Longtrellis (gespielt von Salma Hayek) danach, endlich ein
Kind zu bekommen. Ein Wunsch, den sie wohl schon lange hegt, sie scheint
unfruchtbar zu sein. Der Film beginnt mit Gauklern, die sie und ihren Mann
unterhalten soll. Der (John C. Reilly) amüsiert sich auch köstlich und schaut
immer wieder zu seiner Frau, auf der Suche nach Bestätigung. Sie erwidert den
Blick nicht, sie lacht nicht. Selbst die Gaukler am Hofe sind im Stande, Kinder
zu bekommen. Sie fühlt sich nicht amüsiert, sie fühlt sich verhöhnt. Sie
erwidert den Blick nicht; später wird sie die Rolle ihres Mannes und ihr Sohn
ihre Rolle einnehmen. Später wird sie das Herz eines Seemonsters essen, um
endlich ein Kind gebären zu können. Sie wird ein Leben nehmen und ein Leben
opfern, um Leben schenken zu können. Sie wird ihr Zuhause verlieren, um sich
ein neues Zuhause aufbauen zu können. In ihrer blinden Sehnsucht merkt sie gar
nicht, was sie alles verliert, wie sie sich verläuft - bis sie in einer
Sackgasse landet und geschlagen umkehrt.
Auch im Märchen gilt: Keine Nippel!
Die bittere und rücksichtslose Zerstörungssucht der Privilegierten und
menschlichen Wesen im Allgemeinen bringt Garonne exemplarisch zum Ausdruck und
auch hier findet sie erst ein Ende, wenn sich das Blatt des Schicksals wendet
und die Menschen, die den niedersten Reizen erliegen, daran zu Grunde gehen. Die
Gier und der Hochmut führen in allen drei Geschichten zum Verderben. Sei es
durch die eigene Hand oder die der anderen. Entweder lauert am Ende der Reise
der körperliche Zerfall, der moralische Zerfall oder eine Mischung aus allem.
Mit Selbstverstümmelung, „Kannibalismus“ und all der Gewalt kommt der Film
mächtig eindeutig in seiner metaphorischen Bedeutung daher. Und hier ist auch
der Moment, da der Bezug zur Einleitung hergestellt wird. Während die
Handlungsstränge zwar noch auf einem sehr ähnlichen qualitativen Niveau
anzufinden sind (vor allem optisch ist das schlicht herausragend), besteht das
Problem, dass die drei Stränge des Films hintergründig viel zu ähnlich sind. Da
wird das Gleiche auf eine äußerlich andere Art und Weise gezeigt. Die Form ändert
sich, der Inhalt bleibt gleich. Dadurch entsteht eine Menge Leerlauf.
Wiederholungen häufen sich und der Blick auf die Uhr bleibt nicht aus. Der Film
verliert durch die Redundanzen eindeutig an Kontur und wirkt mit der Zeit wie
eine Schallplatte, die springt, sodass die gleiche Stelle immer und immer
wieder ertönt.
Matteo Garonnes erster englischsprachiger Film „Das Märchen der Märchen“ kann
sich wahrlich sehen lassen. Rein visuell betrachtet ist dieser Film von Sekunde
1 bis zum Ende des Abspanns ein Wohlgenuss für die Augen. Die Bilder sind von
einmaliger Schönheit, die Kulissen und Kostüme wahrlich herausragend. Garonne
überzeugt, er verzaubert. Er lullt den Zuschauer ein und lässt ihn Zeuge der
fantastischen Momente und Bilder werden - und lässt sich dabei nicht lumpen,
auch die großen Meister anzupeilen. Kubrick, Burton und Bergman tauchen da auf
die ein oder andere Art und Weise auf. Leider ändert das nichts daran, dass der
Film sich nach einer Weile nur noch selbst wiederholt und zustimmt. Die verschiedenen
Geschichten sind auf einmal gar nicht mehr so unterschiedlich, sondern erzählen
ein und dasselbe, nur in anderen Kostümen. Da bleibt der Film ganz weit hinter
seinen Möglichkeiten zurück und enttäuscht doch gewaltig. Nicht falsch
verstehen; „Das Märchen der Märchen“ ist weit davon entfernt, ein schlechter
Film zu sein. Der erhoffte und richtig gute Film ist er aber auch nicht
geworden.
Fakten: Nymph()maniac: Volume I & II
Dänemark, BRD, Belgien, UK, Frankreich. 2013. Regie und Buch:Lars von Trier.
Mit: Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgard, Stacy Martin, Uma Thurman, Jaime
Bell, Connie Nielsen, Christian Slater, Daniele Lebang, Mia Goth, Willem Dafoe,
Shia LaBeouf, Sophie Kennedy Clark, Maja Arsovic, Michael Pas, Caroline
Goodall, Udo Kier, Jean-Marc Barr u.a. Länge Teil 1: 145 Minuten
(Uncut-Fassung), 117 Minuten (Cut-Fassung). Länge Teil 2: 124 Minuten. FSK:
freigegeben ab 16 Jahren. Ab 20. November 2014 auf DVD und Blu-ray erhältlich.
Story: Der ältere Junggeselle Seligmann rettet Joe in einer Gasse vor einer
Schlägerei. Daraufhin nimmt er die 50-jährige Frau mit zu sich nach Hause, um sie
zu pflegen. Dabei erzählt Joe ihre Lebensgeschichte, die Lebensgeschichte einer
Nymphomanin.
Meinung: Nach
seinem irritierenden „Okay, ich bin ein Nazi“-Statement in Cannes, das die
Filmwelt 2011 postwendend zu einem echauffierten Tal keifender Furore
konvertierte, erteilte sich Lars von Trier selbständig Redeverbot und lud sich
gleichwohl aus allen folgenden Pressekonferenzen aus: Das dänische Enfant
terrible wurde seinem Ruf als kontroverser Filmemacher wieder einmal gerecht,
auch wenn er diese Äußerung hinter der Kamera gewiss mit einem leichtfertigen
Augenzwinkern traf. Mit der losen Ankündigung zuvor, einen „echten Porno“
drehen zu wollen, entlockte er nicht nur seiner Fangemeinde erwartungsvolles
Frohlocken, sondern zog mit einem gar brillanten Marketingfeldzug nach und lenkte den
Fokus der gesamten Branche auf sein neustes Werk: Clips als Appetizer,
Orgasmus-Poster und eine Laufzeit von angeblich über fünf Stunden, ließen die
virtuelle Gerüchteküche Tag und und Nacht brodeln. Wie weit wird der
Kopenhagener dieses Mal nun wirklich gehen, wie viel Porno steckt wirklich in
„Nymphomaniac“, im Abschluss seiner Depressions-Trilogie? Expliziter
Geschlechtsverkehr sollte nach seinem Opus Magnum „Antichrist“ keine Neuheit in
seinem Œuvre darstellen.
Ob die Kollegen der CineCouch so ihre Podcasts aufnehmen?
Um die Lage zu
Anfang schon gleich zu entschärfen: Nein, „Nymphomaniac“ ist kein
handelsüblicher Pornofilm geworden, der seinen Sex willkürlich in das Geschehen
integriert und diesen dann nur zur reinen Wichsvorlage für das Publikum
degradiert. „Nymphomaniac“ ist hingegen ein echter Von Trier, durch
und durch provokativ in seinen Anlagen, umso menschlicher im Umgang mit seiner
Protagonistin Joe in der Gesamtansicht. Begrüßt werden wir mit einer Schwarzblende,
die eine gefühlte Ewigkeit visuell die Leinwand für sich bestimmt, während sich
die Regentropfen im Hintergrund leise einen Weg durch die Düsternis bahnen, um
dann mit einer elegische Kamerafahrt durch die kalte Hinterhoftristesse fortzusetzen.
Eine ästhetische Sequenz, die schließlich durch Rammsteins lospolterndes „Führe
Mich“ vollkommen konterkariert wird. Irgendwann erreichen wir dann auch Joe,
unseren Leitfaden, dessen geschundener, mit sanft auf sie herabfallenden
Schneekristallen bedeckter Körper, der dann von Seligman aufgelesen wird. Er will
ihr helfen und nimmt sie mit in seine Wohnung; sie jedoch macht ihm
unmissverständlich klar, dass sie diese Hilfe nicht verdient hat.
Das werden die Klitschkos ganz wuschig: ein lebende Milchschnitte
Joe bietet Seligman
an, ihm von ihrem Leben als Nymphomanin zu erzählen und nimmt ihn zusammen mit
den Zuschauer mit auf eine episodische Reise durch einzelne, prägenden
Stationen ihrer Vergangenheit. Von der frühen Kindheit, das Erwachen sexueller
Bedürfnisse, ihrer Entjungferung, die Gründung eines Clubs für Nymphomaninnen,
die das katholische Schuldbekenntnis „Mea culpa“ mal schnell zu „Mea vulva“
formen, bis hin zu ihrer ersten und letzten festen Beziehung mit Jerome.
„Nymphomaniac“ zeigt sich im ersten Teil noch als vitales Erlebnis, das nicht
nur jeden Rahmen seiner Erzählstruktur negiert, er funktioniert einfach auf
derart vielen Ebenen, dass sich Lars von Trier für sein künstlerische
Verständnis erneut breit grinsend auf die Schulter klopfen darf. Während Joe
ihren Leidensweg Schritt für Schritt offeriert und sich permanent als
schlechter Mensch versteht, versucht sie Seligman, die Enzyklopädie auf zwei
Beinen, durch allerhand Exkurse und Analogien wieder in das richtige Licht zu
rücken und ihre erdrückenden Schuldgefühle durch Gegenargumentationen zu entkräften.
Zwischen Joe und Seligman entsteht ein zuweilen unbekümmerte Wärme, die in Joes
dargebotener Tour de Force spätestens im zweiten Teil vollständig verschwindet.
Joe und Jerome sind voll in ihrem Element
Seligman fungiert
als moralische Stütze, während Lars von Trier einen Teufel tut, das Verhalten
seiner Joe in irgendeiner Weise zu moralisieren. Er intellektualisiert und
psychologisiert es, und das durch verschiedenste Mittel, doch er verurteilt
nicht, dafür liebt er seine Nymphomanin viel zu sehr. Wenn Seligman auf die
Fibonacci-Folge zurückgreift oder die Beutejagd Joes, die bis zu 10 Männer pro
Nacht zur Lustbefriedigung benötigt, durch das Fliegenfischen versinnbildlicht, dann ist die Spielfreude Von Triers
geweckt und „Nymphomaniac“ entpuppt sich zur humorvollen Groteske, die jener
depressiven Disposition entgeht, die noch „Antichrist“ und „Melancholia“
regierte. Über die gallige Note in „Nymphomaniac“ darf gelacht werden, nur man
sollte sich darauf gefasst machen, dass von Trier mit den letzten drei der
insgesamt acht Episoden die Tonalität wechseln wird. Von der jungen Frau, die
sich zusammen mit ihrer Freundin von Zugabteil zu Zugabteil schlägt und mit ihr
um die Wette mit Männern schläft, nur um eine Tüte Schokopralinen zu gewinnen;
die junge Frau, die noch unverständlich dreinblickt, als ein Passagier ihr
erklärt, dass er sein Sperma eigentlich für seine Frau aufbewahren wollte, um ihr 2 Minuten später schon in den Mund zu spritzen, wird
im zweiten Teil eine Frau, deren Vagina sich empfindungslos zeigt, die sich auf
neue, sado-masochistische Bahnen schlägt, um endlich wieder etwas zu fühlen.
Joe und K haben eine ganz besondere Beziehung
Joe ist unfähig zu
lieben, sie kann sich nicht um das gemeinsame Kind mit Jerome kümmern, dem sie
ihre Taubheit genau dann gesteht, als eigentlich alles perfekt schien; in dem
Moment, in dem Von Trier Joes Nymphomanie durch Bachs Polyphonie in grandiosen
Split-Screens deutet. Danach geht es – bis auf die amüsante Szene mit zwei
Schwarzen, die sich darum streiten, wer Joe denn nun anal und wer sie vaginal
penetrieren darf - düster und pessimistisch einher. Ihre vordergründige Liebe
zu erweist sich als unerreichbar, Jerome lässt sie gehen, damit sie ihre Vagina
reaktivieren kann und trifft auf K, der ihr mit 40 Peitschenhieben auf den
nackten Hintern, endlich wieder ein Gefühl schenkt, ohne das sie nicht mehr
existieren kann: Ihre wütend-frigile Obsession zerfrisst sie langsam von innen
heraus. Dass Lars von Trier hier natürlich auch die Hintergründe der
Pornomaschinerie, wie auch die prüden Konventionen unserer Gesellschaft
dekonstruiert, versteht sich angesichts des Themenspektrums natürlich von
selbst. Wie offen und ehrlich er Joe, ihrer Sucht und ihrer Emanzipation, aber
durchweg entgegentritt, das hat schon etwas ungemein Berührendes.
„Nymphomaniac“ ist ein Psychogramm, das sich nicht für äußerliche Normen
interessiert, sondern für den fatalen Werdegang seiner Akteurin – Und dabei
darf sich der gute Lars inzwischen natürlich so manche Selbstreferenz leisten.
Schwach sind im ungemein philosophischen und feministischen „Nymphomaniac“
nicht die Opfer ihrer Gelüste, es sind die Personen, die sich und anderen
zwanghaft emotionale Selbstverständlichkeit einreden möchten. In der Selbsthilfegruppe wird
das illustrativ auf die Spitze getrieben: Joe besteht auf ihre Anrede als
Nymphomanin, sie ist nicht sexsüchtig, sondern eine Nymphomanin. In Teil 2 hat
sich die Narrative von „Nymphomaniac“ auch gänzlich vom zerstückelten
Episodenhaften verabschiedet und lässt seine Maschen näher, bitterer
zusammenwachsen. Wo Joe landen wird, macht uns Lars von Trier schon zu Anfang
deutlich, wie sie das Leben aber in diese Situation manövrieren wird, das
schmerzt und setzt einen Stich in das Herz, wie ihn nur Lars von Trier setzen
kann, um dann, wenn sich die Wogen angeblich geglättet haben, wenn alle
Entscheidungen getroffen sind, noch einmal zum letzten Schlag auszuholen.
Mensch heißt Mensch heißt Widersprüche, das hat Lars von Trier erkannt, genau
wie er richtig erkannt hat, dass manche Menschen sich nun mal mehr vom
Sonnenuntergang, als von ihrem Aufgang erhoffen.