Review: VICTORIA - Die deutsche Filmsensation des Jahres auf dem Prüfstand




Fakten:
Victoria
BRD. 2015. Regie: Sebastian Schipper. Buch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Schulz. Kamera: Sturla Brandth Grovlen. Mit: Frederick Lau, Laika Costa, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Hauff, André Hennicke u.a. Länge: 142 Minuten. FSK: freigegeben ab 12 Jahren. Auf DVD und Blu-ray erhältlich.


Story:
In einer Partynacht trifft die Spanierin Victoria auf Sonne und seine Freunde. Sie wollen eigentlich noch ein bisschen Zeit miteinander verbringen, als sie in einen Strudel aus Brutalität, Zwang und Schuld gesogen werden.





Meinung:
Über keinen deutschen Film wurde in diesem Jahr so viel gesprochen, geschrieben und gejubelt, wie über den zweieinhalbstündigen Onetake von „Absolute Giganten“-Regisseur Sebastian Schipper. „Victoria“ wurde in der Filmlandschaft alsbald zu einem Ungetüm, einem Koloss von Film, hinter dem nur Künstler stecken konnten, die den Sinn für die Realität verloren haben. Ein Film über eine Nacht durch Berlin, gedreht an einem Stück. Vor Überraschung erhobene Augenbrauen hat sich das Team redlich verdient. Dass der Film aber dann auch noch reihenweise Zuschauer und Kritiker überzeugte, war genug, um „Victoria“ vielleicht auf immer in das ewige Film-Paradies zu heben. Meilenstein, Werk für die Ewigkeit, der deutsche Oscar-Gewinner, eigentlich könnte Deutschland jetzt aufhören, Filme zu machen, der Zenit sei erreicht. So oder ähnlich schien das Echo der Medien gewesen zu sein. Nun ja.


Nur ein einziger Schuss
Der offensichtliche Star des Films, ist der Film selbst. Wenn schon Plansequenzen von mehreren Minuten des Öfteren Beifall erhalten („Birdman“ zum Beispiel, oder die vierte Folge der ersten „True Detective“-Staffel), dann ist die Begeisterung natürlich immens, wenn für 140 Minuten kein Schnitt getätigt wurde. Das ist verständlich und man kommt auch nicht umhin, seinen Hut zu ziehen, vor der Planung, dem Mut und der Durchführung des Vorhabens. Was aber noch viel schöner ist, als der Onetake selbst, ist die Tatsache, dass sein Konzept ganz wunderbar funktioniert. Die Art des Films, mit seinem atemlosen Charakter, sorgt nämlich für zweierlei Effekte. Erstens ist die Intensität, von der vielerorts gesprochen, die dem Film aber auch ebenso häufig abgesprochen wird, in der ersten Stunde und den letzten zwanzig Minuten tatsächlich nicht zu bändigen. Schweißnasse Handflächen, ein bis zum Hals klopfendes Herz und eine gewisse wirre Orientierungslosigkeit waren die Folge. Dinge, die man dem Film als Qualitätsmerkmal anheften sollte. Der zweite Effekt ist wiederum der Hintersinn. Sebastian Schipper hätte niemals einen Film in einem Onetake machen dürfen, ohne eine tiefere Bedeutung in der Durchführung zu verstecken, die Massen wären empört gewesen, „Arthaus-Schmarthaus“-Rufe wahrscheinlich die Folge gewesen. Durch aber diese schnittlose Art des Films, wird die Reise, auf die der Zuschauer sich begibt, zu einer Momentaufnahme des Lebens von jungen Erwachsenen in Berlin.


Sonne und Victoria kommen sich schnittlos näher
Victoria tanzt, hat Spaß, läuft ein bisschen orientierungslos und halbherzig im Club herum und will dann nicht mehr. Sie geht raus, hat es aber auch nicht wirklich eilig, nach hause zu kommen. Sie hat keine wirkliche Verpflichtung. Hat aber, wenn sie darüber nachdenken würde, eine immense Leere in sich, vor der sie aber nicht mehr fliehen will, denn die ist mittlerweile fester Bestandteil ihres Daseins. Die wenigen Informationen, die Schipper uns in den 140 Minuten über die Charaktere gibt, über ihre Vergangenheit und Wünsche, sie sind auch gewollt spärlich gesät, eben weil die jungen Erwachsenen hier blass aussehen sollen. Früher war die Jugend James Dean, Rebell ohne Grund, Destruktion war die Hauptsache. Heute hat die Jugend aufgegeben, zu rebellieren. Das selbstausbeutende Leben, das sie führen, es hat kein Ziel. Eine triste und bittere Aussage, die die Berliner Ghettojungs um Sonne (wieder einmal sa-gen-haft: Frederick Lau, Deutschlands bester) zu verdrängen versuchen. Lau spielt den vergessenen Jungen, der zwar nicht „zugezogen“ ist, was ihm sehr wichtig zu sein scheint, aber anscheinend sonst keine Rolle in Berlin zu spielen scheint. Er ist unsichtbar, sein Name ein Witz zynischster Art. Die Vermittlung von Stimmung und Gefühl, die funktioniert in Schippers intimem Drama ganz hervorragend, besser noch, als in vielen anderen Filmen. Die erste Stunde des Films ist emotionales und intensives Kino par excellence.

 
Keine zweite Chance für Victoria?
Dann kommen aber Sonnes Freunde wieder, die man vorher schon kennenlernen durfte. Boxer (Franz Rogowski aus „Love Steaks“) muss jemandem einen Gefallen zurückzahlen. „I’m not a bad guy, I did a bad thing, okay?“ Ja, man glaubt ihm, vor allem, weil die Truppe so verdammt lebensecht rüberkommt und noch realistischer gespielt wird. Es bieten sich Szenen, Sätze und Attitüden, die so wohl schon jeder einmal mitgemacht oder erlebt hat. Schipper baut hier (einmal mehr in der ersten Stunde) unheimlich viele emotionale Ebenen auf, die allesamt ineinander pulsieren zu scheinen, die knisternde Stimmung ist quasi fassbar. Berührend, weil post-depressiv in der Härte von Laus Gesicht und dem verträumten eskapistischen Abwehrmechanismus von Laika Costas Figur. Eine aussichtslose Jugend in einem Tunnel ohne Bedeutung, abgesehen von der, die den Menschen von außen eingetrichtert wird. In der Hinsicht weist der Film allerdings, das muss man beachten, deutliche Defizite auf. Vieles ist vereinfacht, selten ist inhaltliche Komplexität wirklich gegeben (wenn, dann in der magischen ersten Stunde) und je weiter die Heist-Story Gestalt annimmt, desto klischeehafter wird hier teils verfahren. Das geht dann gar zeitweise in ärgerliche Gefilde und das sind Punkte, die hier und da für harsche Kritik an dem Film sorgten - mit Recht. Die Stärke, die der Film sich vorher erbaut hat, sie wird mit einem Ruck weggewischt, vergessen, die reizvolle Spontanität des Films wird mit Füßen getreten. Das schmerzt merklich, das wirft den Film aus der Bahn und kostet ihn wahrlich Zeit, um sich wieder aufzuraffen.


Letzten Endes ist die Euphorie schon verständlich. Sebastian Schippers Film „Victoria“ war ein Riesenhit und das ist schön, weil der Film ein Wagnis war. Der beste Film aller Zeiten ist er aber nicht, auch nicht der beste deutsche Film. „Nur“ ein guter Film, dem es während der Sichtung zum Großteil gelingt, über seine Defizite hinwegzutäuschen, den Zuschauer zu blenden. Der Film erzählt eine wahllose Nacht aus einem wahllosen Leben nach, so scheint es zu Beginn und so wäre ein sagenhafter Schuh draus geworden. Nun macht der Film es sich aber schwieriger und verrennt sich zeitweise. Dennoch: Die Chemie zwischen Lau und Costa ist bemerkenswert, die Lebensgeschichte ist teils rustikaler und teils geschmeidiger Natur und das Level an Professionalität, das für eine solche Leistung nötig ist, ist schlicht nicht zu überblicken. „Victoria“ ist ein Film, in dem man unheimlich gut versinken kann und teilweise sauspannend. Ein Film und eine Leckerei für Steadycam-Fetischisten. Aber eben auch einer Werk mit Problemzonen. 


7 von 10 Klischee-Gangstern


von Smooli

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